Ich hatte den Mann noch gar nicht richtig wahrgenommen, schon hatte er sich ungefragt an meinen Tisch gesetzt. Na gut, es war voll in der Bar, aber er hätte wenigstens fragen können, dachte ich leicht angesäuert. Es sollte verboten werden, sich einfach ungefragt zu fremden Leuten an den Tisch zu setzen. Ich beschloss, den etwas ungepflegt wirkenden, älteren Herren in dem abgetragenen Mantel so gut es ging zu ignorieren. Doch schon nach handgestoppten 12,3 Sekunden richtete er das Wort an mich.
"Das gehört verboten", brummte er und sah mich auffordernd an. "Oder nicht?"
"Äh, was genau meinen Sie?", fragte ich höflich zurück.
"Alles gehört verboten."
"Alles?"
"Habe ich doch gesagt." Er nahm einen Schluck aus einem mächtigen Bierglas, das urplötzlich auf seinem Platz gelandet sein musste.
Nun hatte der seltsame Kerl mein Interesse geweckt. Ich beschloss, dass ich mehr zu seinem revolutionären Verbots-Konzept erfahren musste.
"Sie meinen also, man sollte Korruption verbieten?", schoss ich ins Blaue hinein.
"Die sowieso. Und Versicherungsbetrug sollte auch verboten werden."
"Aber der ist doch schon verboten", wagte ich einzuwenden.
"Na, umso besser." Missmutig nahm er einen weiteren Schluck aus seinem sicherlich zwei Liter fassenden Bierglas.
"Und was ist mit der Politik? Sollte die nicht auch verboten werden?", fragte ich.
"Natürlich! Und zwar umgehend! Sie hat schon mehr als genug Schaden angerichtet!"
"Und Fußball?"
"Verbieten! Sofort verbieten! Proletensport, elendiger."
"Schlagermusik?"
"Weg damit! Ich kann Frau Fischer nicht mehr sehen, muss es aber auf allen Kanälen, zu jeder Stunde, ständig. Und dann noch diese Texte … nein, weg damit!"
Jetzt war ich richtig in Fahrt. "Aber U-Bahnfahren wollen sich nicht auch noch verbieten?"
"Doch, natürlich! Das sollte man sofort verbieten, die Bahnen sind sowieso immer überfüllt."
"Radfahren?"
"Wenn's nach mir ginge, wäre das schon seit Jahren verboten!"
"Luxussanierungen von Wohnhäusern?"
"Verbieten!"
"Flohmärkte?"
"Abschaffen! Dort wird man sowieso immer über den Tisch gezogen."
Langsam gingen mir die Themen aus, doch ich war noch nicht bereit, aufzugeben.
"Aber man kann den Menschen doch nicht das Gehen verbieten?"
"Doch, natürlich! Das traut sich nur keiner. Wenn Gehen verboten würde, kämen die Menschen nirgendwo mehr hin und könnten ihrer Umwelt weniger Schaden zufügen, oder etwa nicht?"
Und wieder ein mächtiger Schluck aus dem Glas. Der Mann wirkte kein bisschen betrunken. Wo steckte er das nur hin in seinem schmächtigen Körper?
"Aber, werter Herr, Sie wollen doch nicht ernsthaft den Menschen die Gefühle verbieten? Die Liebe zum Beispiel?"
Er sah mich aus blitzenden Augen heraus an. "Die muss man nicht verbieten. Sie existiert doch sowieso nicht."
Das leuchtete mir ein. Dennoch wollte ich mich damit nicht zufrieden geben. "Was ist mit dem Atmen? Wenn Sie das verbieten wollen, haben die Menschen ein ernsthaftes Problem."
"Kann man trotzdem verbieten."
Der Fremde war mir nicht geheuer. Ich beschloss, in die Offensive zu gehen.
"Wäre es denn, rein theoretisch, auch mir gestattet, Dinge zu verbieten?"
"Selbstverständlich! Jeder sollte das Recht haben, etwas zu verbieten. Momentan traut sich nur keiner, es zu tun."
"Sehr gut. Nehmen wir an, ich würde es verbieten, dass sich wildfremde Menschen ungefragt zu mir an den Tisch setzen und mit mir über Verbote reden wollen."
"Aber… das…" Zum ersten Mal wirkte der Mann verunsichert. Er kratzte sich am Kopf. "Das sollte man nicht verbieten, finde ich. Das würde doch die Freiheit stark einschränken. Hmm…" Er versank in ein dumpfes Grübeln. Ich winkte der Bedienung, um noch etwas zu bestellen, und als ich wieder zu dem Fremden hin sah, war er verschwunden.
"Wie unhöflich", murmelte ich. "So plötzlich zu verschwinden, sollte verboten werden."