DE 1958 Gefährlicher Spaß im Rhein

Bild zeigt Willi Grigor
von Willi Grigor

Ich möchte sie eine "geistige Hürde" nennen. Ich meine diese eigenartigen Bilder, die der Traum einem vorgaukelt, wenn man von etwas träumt, von dem man noch keine eigene Lebenserfahrung hat. Ein gefährlicher Spaß im Rhein half mir, so eine Hürde zu nehmen, d.h. die entsprechende Lebenserfahrung zu machen.

Es war wohl 1958 und ich 15 Jahre alt. Ich hatte vor Kurzem mein erstes Fahrrad bekommen. Meine drei Freunde, Erich, Johnny und Peter hatten solche schon seit einiger Zeit. Meine Eltern sahen sich gezwungen, anstelle neuer Matratzen (einteilige statt den dreiteiligen ersten von 1951) mir ein Fahrrad zu kaufen. Damit gaben sie mir meine Lebensfreude zurück. Ich war stolz. Dreigangschaltung, Freilaufnabe und Felgenbremse an beiden Lenkergriffen!

Mit einem Fahrrad war man frei. Uns Fahrradbesitzern gehörten die Straßen in Oberbilk, dem "Arbeiterstadtteil" von Düsseldorf. Autos waren noch Mangelware. Bald besuchten wir die abgelegeneren Stadtteile, sonnten uns am Rheinufer bei Himmelgeist und schwammen in der damals braunen Brühe dieses viel besungenen Flusses. Aufgrund der starken Strömung waren wir immer nur kurze Zeit im Wasser und liefen dann im Dauerlauf zurück zu unserem Lagerplatz. Peter war der Platzwart, er konnte nicht schwimmen.

Zu dieser Zeit war der Rhein ein stark befahrener Fluss. Ist er wohl heute noch, aber nicht im Vergleich zu damals. In beide Richtungen zogen Schleppschiffe mehrere meist mit Kohle beladene Lastkähne, die durch Seile miteinander verbunden waren.
Wir sahen von der Ferne, wie andere Jungs einen der tief im Wasser hängenden Lastkähne anschwammen, ihn enterten und auf ihm dann stromaufwärts fuhren. Vor dem Kapitän brauchten sie keine Angst haben. Der steuerte den ganzen Zug vom Schlepper, die Lastkähne waren "unbewohnt". Nach einiger Zeit kamen die mutigen Kerle, von der Strömung getrieben, im Eiltempo zurück. Ständig darauf achtend, dass sie den vielen Booten nicht zu nahe kamen. Allerdings glückte nicht jeder Enterversuch. Das sah mitunter ziemlich gefährlich aus.
Erich und mich lockte dieses Spiel, Peter (Nichtschwimmer) und Johnny (ein Vorsichtiger) weniger. Wir fühlten uns gezwungen, es zu versuchen. Die ersten Versuche dienten dazu, sich in die Nähe der Boote zu trauen und sich an deren Geschwindigkeit zu gewöhnen. Es wurde uns klar, dass wir aus Sicherheitsgründen den letzten Lastkahn ansteuern mussten. Bei einem Fehlversuch könnte man sonst mit dem folgenden kollidieren und vielleicht unter diesen kommen.

An einem der folgenden Tage fühlten wir uns bereit einen Enterversuch zu wagen. Im richtigen Moment musste die Laufstegkante mit den Händen erfasst werden und dann musste man stark genug sein, den Körper aus der reißenden Strömung nach oben zu ziehen. Es galt, einen Lastkahn zu erwischen, der nicht zu tief im Wasser lag. Wurde die Laufstegkante vom Wasser überspült, war sie nicht mehr griffig genug. Der Kahn durfte aber auch nicht zu hoch sein, das würde das Hochziehen erschweren.
Ich weiß nicht mehr, wer den ersten Versuch wagte, auf alle Fälle ging er daneben. Danach galt es einen neuen "Zug" anzuvisieren. Wenn der nicht klappte, waren wir zu weit abgetrieben, mussten an Land und wieder zurück zum "Lager" laufen.
Irgendwann hatten wir es aber raus. Es war ein tolles Spiel. Wir fuhren kilometerweit stromaufwärts und sonnten uns auf Kohlehalden. Die Freifahrt zurück war auch nicht sonderlich anstrengend. Es war sicherlich kein risikoloses Spiel aber bisher eins ohne Zwischenfall.

Doch dann kam einer.

Peter, der Nichtschwimmer, konnte zwar nicht schwimmen aber Angst vor Wasser hatte er nicht. Noch nicht einmal vor reißendem Rheinwasser! Als Erich und ich wieder einmal "auf Fahrt" gehen wollten, sagte Peter: "Ich begleite euch ein Stück mit meinem Schlauchboot." Er legte sich mit dem Bauch auf das aufgeblasene Gummiviereck und paddelte mit den Armen schräg gegen die Strömung, um zusammen mit uns nah an den ausgewählten Kahn zu kommen, der noch ein gutes Stück rechts von uns gegen die Strömung uns entgegenkam. Das Schwierigste - aber Wichtigste - war, im richtigen Augenblick an der richtigen Stelle der Laufstegkante beherzt zuzupacken. Vollkommener Wahnsinn, denke ich heute. Erich ergriff die Laufstegkante und zog sich hoch. Ich war näher an Peter und sah, wie er an Kraft verlor. Er trieb ab und ich hatte keine andere Wahl, als so schnell wie möglich zu ihm zu kommen, damit er nicht an oder unter einem der Kähne kommt. Das wäre wohl das Ende gewesen. Ich hatte in der Schwimmhalle zwar den Grundkurs zum Rettungsschwimmer gemacht aber dies hier war kein stehendes Gewässer.
Ich strampelte mit meinen Beinen auf Teufel komm raus, um Peter ans Ufer zu bugsieren. Der brauchte seine Restkraft, um sich auf dem schaukelnden Schlauchboot zu halten. Erich war wieder ins Wasser gesprungen und nicht weit hinter uns. Wir trieben weit ab, bis wir wieder an Land waren.
Schlimmer als so wurde es nicht. Es hätte aber auch sehr schlimm enden können.

Etwas später ereignete sich ein weiterer Zwischenfall bei unserem "gefährlichen Spaß im Rhein", der jedoch eher interessant als dramatisch war. Und der hat mit der "geistigen Hürde" zu tun, mit der ich diese Erzählung begann.

Es war bestes Sommerwetter. Erich und ich radelten allein zu unserer abgelegenen Stelle am Rheinufer irgendwo bei Himmelgeist. Bisher waren wir hier immer die einzigen Besucher, aber jetzt lag an unserem Stammplatz ein hübsches Mädchen im Bikini. Dies war der Anfang einiger schönen Tage zusammen mit ihr. Es passierte nichts "Schlimmes". Wir redeten und spaßten. Im Gegensatz zu mir hatte Erich schon einschlägige Erfahrungen mit Mädchen. Ich hatte gerade meinen ersten Kuss hinter mir, mehr nicht. Aber Erich hielt sich zurück. Das frohgelaunte Mädchen (ihren Namen habe ich vergessen) gab keinem den Vorzug. Sie war nett zu uns beiden und ließ uns bei neckischen Spielchen ihre Haut spüren.
Natürlich zeigten wir was wir konnten, nämlich Lastkähne anschwimmen, sie entern und auf ihnen stromaufwärts fahren. Sie war imponiert und interessiert, wollte das auch einmal machen. Wir waren skeptisch und erzählten ihr die Geschichte mit Peter. "Aber ich kann gut schwimmen!" sagte sie.
Okay. Wir nahmen sie in die Mitte und gingen ins Wasser. Erich und ich waren eingespielt. Man muss die Entfernung des gewählten aber noch ziemlich entfernten Kahns abschätzen, um ihn an der richtigen Stelle zu erwischen. Der kommt uns ja entgegen während wir in dessen Richtung treiben und gleichzeitig mit richtigem Tempo in Richtung Flussmitte schwimmen müssen. Mit dem ungeübten Mädchen bei uns war es natürlich etwas schwieriger. Aber wir kamen ganz gut ran. Erich war links von uns und etwas mehr vorne. Er griff zu und war auf dem Kahn. "Jetzt zugreifen!" rief ich dem Mädchen zu. Der Kahn sauste an uns vorbei, jetzt oder nie. Ich zog mich hoch. Sie klammerte sich an die Laufstegkante, konnte sich aber nicht hochziehen. Ich nahm ihre Hände und zog sie nach oben..
Und damit nahm ich gleichzeitig auch die oben erwähnte "geistige Hürde" und hatte ein neue Lebenserfahrung. Das hübsche Mädchen hing nämlich einige Sekunden an meinen Händen, während "Vater Rhein" an ihr riss und ihr das Bikiniunterteil bis hinunter zu den Knöcheln zog. Und in diesem Augenblick wusste ich, dass mir kein Traum mehr für diesen Bereich falsche Bilder vorgaukeln kann.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich es bedauerte, dass "der alte Vater Rhein" so gütig zu ihr war und ihr das Höschen nicht ganz vom Leibe riss und es unwiederbringlich in seinem Bett versteckte.

Nach einigen Tagen waren die Schulferien zu Ende und diese unschuldig-nette Romanze zu dritt auch.

**
Rheinaufwärts mit dem Schleppzug

Als Vater Rhein noch unrein war
und äußerst stark befahren,
wir schwammen in ihm, oft sogar,
trotz lauernder Gefahren.

Wir wählten einen vollen Kahn,
der fuhr in Richtung Quelle.
Wir mussten nah an ihn heran,
uns half des Buges Welle.

Mit einem gut geübten Griff
wir zogen uns nach oben.
Der Kapitän im ersten Schiff...
Wir ahnten nur sein Toben.

Der gute Mann konnte nichts tun
gegen des Lebens Tücke.
Es gab - wir konnten sorglos ruh'n -
zum Lastkahn keine Brücke.

Wir fuhren mit ein gutes Stück
als blinde Passagiere.
Der Rhein trieb abwärts uns zurück
in seiner braunen Brühe.
**

© Willi Grigor, 2017

Siehe auch:
literatpro.de/prosa/070916/ein-freund-uwe-seeler-heino-und-ich
literatpro.de/prosa/270617/de-2011-nostalgisches-wiedersehen-mit-duesseldorf
literatpro.de/prosa/120117/de-die-vier-dora-die-bierzeitung-und-deren-auswirkungen

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