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– mal rein hypothetisch …
Hallo Du. Ja, genau Du, mit Dir möchte ich sprechen. Vielleicht schaut dich gerade mein Profilbild an, meine Augen sind dort scheinbar genau auf dich gerichtet. Ja, das ist ein Luxus, jemandem in die Augen sehen zu können, während man miteinander redet. Wovon ich gerade spreche? Ich werde es dir verraten: Von einem Telefon. Oder, besser gesagt, von einem Anruf. Oder, besser gesagt, von einer ganzen Folge von Anrufen. Rein hypothetisch.
Also, setzt dich bequem hin und hör mir bitte gut zu, denn ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Eine lange, merkwürdige Geschichte. Ach, nennen wir es nicht „Geschichte“. Nennen wir es lieber eine Gedankenspinnerei, die wir beide, du und ich, in unseren Köpfen durchspielen.
Mein Gedankengespinst handelt von einer Frau, von ihrem Telefon und …von einem Atem.
Jetzt bist du erstaunt, oder? Welches Atmen, fragst du dich vielleicht. Nun, das fragt sich diese Frau sicher auch. Stellen wir uns einfach vor, dass mehrfach am Tag ihr Telefon klingelt. An und für sich nichts Besonderes, wirst du vielleicht denken und die Achseln zucken. Recht hast du. Aber stellen wir uns weiterhin vor, wie die näheren Umstände rund um dieses Telefonklingeln sein könnten-
Sagen wir beispielsweise wir schreiben das Jahr 2016.… November vielleicht. Es ist ein dunkler, nasser, grauer Monat und sie sitzt am Schreibtisch und ist gedanklich abwesend. Stellen wir uns vor, sie hat kurz zuvor etwas Traumatisches erlebt. Was könnte das sein?, fragst du dich vielleicht. Hm. Denken wir an etwas Dramatisches: Diese Frau hat etwas, das sie sehr liebt, verloren. Und seither stürzt sie sich wie eine Irre in die Arbeit, um sich abzulenken. Neben ihr stehen vielleicht eine Kaffeetasse, die schon wieder leer ist, eine Kerze – und das besagte Telefon.
Das Telefon klingelt, die Rufnummer ist unterdrückt – sie bemerkt es gar nicht. Fahrig nimmt sie ab und meldet sich namentlich. Am anderen Ende der Leitung hört sie einen Atem. Einen deutlich hörbaren, schweren Atem, wie von jemandem, der gerade schnell gerannt ist. Oder wie der Atem von jemandem, der emotional aufgewühlt ist. Genauso wie sie selbst. Ihr Herz Klopft bis zum Hals – so zumindest würde ich mich an ihrer Stelle fühlen . Dann hört sie ein Schlucken. Als wolle jemand am anderen Ende der Leitung etwas sagen, entscheidet sich dann aber anders. Dann macht es KLACK.
Die nächsten Tage wiederholt sich das "Spiel". Immer nach demselben Muster. Erst nimmt sie fahrig ab, dann erfolgt am anderen Ende der Leitung dieses Atmen. Und Schlucken. Und Räuspern. Als dieses merkwürdige Geschehen irgendwann in die zweite, ja, schließlich sogar in die dritte Woche geht, keimt ein Gedanke in ihr auf. Erst nur ein vage Idee, dann immer spezifischer, immer greifbarer. Was wäre, wenn …
Ja, da gibt es einen bestimmten Menschen, der ihr vielleicht dringend etwas zu sagen hätte. Bei dem sie einen gewissen Druck zu sprechen annimmt. Ein Mensch, der sich dringend zu erklären hätte. Einer? Hm, genauer genommen gäbe es einige Leute, die gewiss einen inneren Druck verspüren... Du schaust mich so fragend an. Druck? Erklärung? Worum geht es?
Stellen wir uns einmal vor – rein hypothetisch – die Frau hätte innerhalb der letzten Monate unwillentlich den Unmut einiger Menschen auf sich gelenkt. Es könnte doch sein, dass einer von denen…? Nein. Oder doch? Würden diese Menschen nicht viel eher ihre Aggressionen völlig unverhalten auf sie niederprasseln lassen? WER ruft sie an, um dann NICHT mit ihr zu sprechen. Ich persönlich könnte mir gut vorstellen, dass ihre Gedanken unaufhörlich um diese Frage kreisen... und irgendwann den Weg zu einer bestimmten Person finden.
Aber täuscht da nicht ihre Sehnsucht Ähnlichkeiten im Verhalten vor? Plötzlich klingt der fremde Atem wie sein Atem. Plötzlich klingt das Schlucken wie seines, das Räuspern, das leise Husten wie seines. Ist es nicht völlig normal, das man hört, was man hören möchte? Sie ist zwigespalten. Sicher, sie möchte seine Stimme hören, seinen Atem an ihrem Ohr. Ober doch nicht so! Es gäbe so viel zu klären. Warum dieses ohne-Worte? Warum dieses Inoffizielle, Heimliche, Anonyme? Alles klingt nach ihm, jedes Herzpochen, jeder Atemzug, jedes Schlucken, jedoch noch so kleine Stimmfetzen hinter einem Räuspern.
Oder ist es doch eine sehr tiefe weibliche Stimme?
Sie lässt den Hörer sinken und überlegt. Bestimmt ist sie angespannt, ratlos und völlig verzweifelt, was meinst du?
Jedes Mal , wenn es neben ihr klingelt, unterbricht sie ihre Arbeit und greift wie hypnotisiert zum Hörer. Wie fremdgesteuert. Vielleicht nimmt sie sich jedes Mal vor, bei einer unidentifizierten Nummer fortan nicht mehr abzunehmen, aber dann greift ihre Hand ganz automatisch nach dem Hörer. Natürlich. Muss sie doch auch. Oder? Immerhin ruft die Schwiegermutter auch stets unter „unknown number“ an, denn sie kennt sich mit den Einstellungen ihres Telefons nicht aus. So oft hat sie versucht, der alten Dame zu erklären, wie man die Rufnummer-Unterdrückung herausnimmt - kein Erfolg!
Dasselbe gilt für eine Freundin, die sie noch von früher kennt. Die klingelt auch penetrant ohne verzeichnete Rufnummer durch. Und dann könnte es vielleicht ein potentieller Kunde sein, der standardmäßig Rufnummer-Unterdrückung für sein Handy eingestellt hat. Ein wenig abwegig, aber es könnte so sein. Einmal war es so. Da war's tatsächlich ein Klient. Und da ihr kleines Unternehmen erst in diesem Jahr an den Start ging, und sie es sich nicht erlauben kann, auch nur einen einzigen Klienten gleich im Vorfeld zu verlieren, nimmt sie ab. Und … was meinst du … gibt es vielleicht noch andere Gründe, weshalb sie abnimmt? Ein inneres Band, das sie verspürt? Eine gewisse Vertrautheit mit der Situation, die sich seit all den Monaten eingestellt hat? Neugier am Ende? Das Ziel, das Rätsel, den geheimnisvollen schweigenden „Gesprächspartner“ zu entlarven? Oder etwas völlig anderes? Was meinst du?
Sie nimmt ab. Wieder und wieder. Ein Atmen. Ein Schlucken. Schritte am anderen Ende der Leitung. Vielleicht auch ein Fax Geräusch. Ruft etwa jemand sie aus einem Büro an? Ständig ein leises Türen Klappern . Eine kleine Wohnung? Ein Hundebellen. Ein Schäferhund? Vielleicht vernimmt sie auch ein Martinshorn. Ruft sie etwa jemand mobil aus der Nähe eines Krankenhauses an? Fragen über Fragen. Nehmen wir einmal
erschienen auf
www.lavendel-lyrik.jimdo.com im BLOG
6-2017, Anouk Ferez
Kommentare
Das Leben birgt viele Geheimnisse
und das was wir NICHT wissen bringt uns weiter, hält die Gedanken am kreisen , ja treibt sogar die Evolution voran ...
Sehr gern gelesen Anouk
LG Micha
@ Michael
Was du sagst, ist wahr... ich habe mir lange den Kopf über eine solche mögliche Situation zerbrochen und ein möglicher Schluss , zu dem ich kam ist, dass es folgende Veranlassung für einen möglichen Fall ( wie der von mir in der Geschichte beschrieben) geben könnte: jemand möchte sich permanent ins Gedächtnis rufen. Jemand möchte auf jene Weise auf sich aufmerksam machen . Jemand möchte die Gedanken desjenigen, bei dem er/sie anonym anruft, beständig in einem Kreislauf halten. Die Gedanken immer wieder ablenken und zwar auf sich. Natürlich lockt das Unerkannte mehr zu Vermutungen als das Bekannte. Man überlegt wahrshceinlich einen möglichen "Täterkreis", überlegt sich wer welches Motiv haben könnte, wem überhaupt mögliche Zeitfenster für eine solche Aktion offen stehen, zu wem die Hintergrundgeräusche passen und und und. Am meisten aber wird man sich - wahrscheinlich- überlegen: WER hat ein solche Ausdauer und WARUM. Und welches Motiv steckt dahinter. Einsamkeit? Hass? Liebe? Langweile? Rachsucht?
Du hast recht, Michael, es ist das Unbekannte. Vielleicht gepaart mit dem Wunsch, Bekanntes darin zu finden..
Danke fürs Lesen und Deine Rückmeldung
lG
Anouk
Du beziehst den Leser aktiv in den Aufbau einer Geschichte mit ein. Genau diese Fragen könnten sich bei einem Schriftsteller bilden, aus deren Antworten er später seine Erzählung den Lesern vorstellt. Das beeindruckt. Ebenso wie die vielen angedeuteten Wege, in die sich die Geschichte hinein entwickeln könnte.
In der Realität würde ich ein solches Verhalten eines Anrufers nur sehr begrenzte Zeit "dulden" und mich nicht so vereinnahmen lassen. Wer meint, mir etwas zu sagen zu haben, darf es gerne tun. Wenn nicht – meine Mutter hatte ein probates Mittel: Eine Trillerpfeife (ich halte sie in Ehren) neben dem Telefon. Die Anrufe damals hörten abrupt auf.
@ Noé
Danke, liebe Noé, fürs Lesen und Deinen Kommentar mitsamt praktikablem Lösungsvorschlag
:-)
Ich denke, die Frau, die ich in meiner hypothetischen Geschichte bzw. der "Geschichte vor einer Geschichte" ( Geschichten-Vorstufe) beschreibe, ist allerdings zu empfindsam für eine solche wirksame Lösung, wie du sie beschreibst. Ich könnte mir vorstellen sie möchte niemanden willentlich verletzten, da sie schon darunter leidet, den/ die eine(n) oder andere(n) unwillentlich verletzt zu haben. Es gibt derlei sensible Menschen, sie sind nicht selten die "Verlierer" und geraten leicht in eine Opfer-Rolle. Was unschön ist. Man sollte es nie gegen jemanden ausnutzen, wenn er/sie lieb und rücksichtsvoll ist.
Danke für die interessanten Aspekte, die du in meiner hypothetischen Konstruktion siehst!
Ich habe innerhalb der letzten Jahre einige Kurzgeschichten und Jugendroman geschrieben und oft nach dem Kartenprinzip gearbeitet. Ich habe mir immer auf Kärtchen mögliche Situations-Einstiege und mögliche Situationsausstiege (Lösungen) aufgeschrieben und diese immer unterschiedlich kombiniert, um mir wahrscheinliche und eher unwahrscheinliche Möglichkeiten überraschende Momente usw zu "konstruieren". Das Befragen unterschiedlicher Personengruppen ist auch eine beliebte Möglichkeit zu der ich greife ( "Was würdest du denken, wie könnte es weitergehen?" "Was würde dich am meisten umhauen?" "Was würde dich am meisten beruhigen/überraschen/ zufriedenstellen?" "Was hältst du am (un-)wahrscheinlichsten?" usw.)
Danke für deine lange Rückmeldung
herzliche Grüße
Anouk
Mich freut deine lange Einlassung auf meinen nicht kurzen Kommentar, liebe Anouk.
Es liegt mir wirklich fern, jetzt und hier eine noch längere Hin- und Her-Diskussion anzuleiern, denn nichts finde ich "ätzender" und "tödlicher", als wenn die Kommentare zu einem Text diesen fast erschlagen (weshalb ich zumeist auch ziemlich "einsilbig" kommentiere).
Aber eine kleine Anmerkung drängt dann doch noch nach "oben": "Ich könnte mir vorstellen sie möchte niemanden willentlich verletzten, da sie schon darunter leidet, den/ die eine(n) oder andere(n) unwillentlich verletzt zu haben.", schreibst du. Richtig! Aber dann gibt es das (Fehl-?)Verhalten des Permanentanrufers: Das empfände ICH schon als einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und ebenfalls durchaus als eine Art massiver Verletzung - der Angerufenen. Weshalb ich einem solchen Tun ein drastisches Ende setzen würde. Hoffen wir, dass ich nie zu dieser Maßnahme greifen müsste.
Der Tipp mit den Karten, der ist genial. Danke dafür!
Und verzeih mir mein insistentes Platzgreifen.
Nochmals Dank und einen angenehmen Sonntag noch, dir!
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