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an, die Anrufe häufen sich mehr und mehr und die arme entnervte Frau unternimmt eines Tages den verzweifelten Versuch, in den Hörer hinein zu sprechen: „Reden Sie vielleicht nicht mit mir, damit ich an Ihrer Stimme nicht erkenne, wer Sie sind?“ Dann schweigt sie und überlegt. „Oder sprechen Sie nicht mit mir, damit ich anhand ihrer Stimme nicht erkenne, wer genau Sie NICHT sind?
Nehmen wir einmal an, eines Tages wird das, was sie sagt und fragt, plötzlich „kommentiert“. Nein, nicht mit Worten. Sondern mit gesteigerter oder fallender Atemfrequenz. Mit zustimmendem oder ablehnendem Räuspern. Später sogar mit einem Klopfen. „Zweimal Klopfen für >ja<, schlägt die Frau vor, „ und einmal Klopfen für >nein<.“ Das sei verrückt, findest du? Wie finde ich das wohl? Hm. Originell? Lösungsorientiert?
Wie spinnen wir die Geschichte nun gedanklich weiter? Ich schlage vor, die beiden Personen klopfen eifrig in den Hörer. Und Tag für Tag, Woche für Woche stellen sich mehr solcher „Gespräche“ ein. Es entsteht eine gewisse Intimität zwischen den beiden Menschen. Und über allem hängt für die Frau die Frage: Wer nimmt sich so viel Zeit, um NICHT mir ihr zu sprechen? Wer? WER??? Sie wünscht Dann und wann hört sie Fetzen einer Stimme vom anderen Ende der Leitung und sie hofft, dass es die Stimme wäre, die sie so schmerzlich vermisst.
Ja, ich stelle diese Frage erneut, denn es ist eine ganz zentrale Frage: Wie viel Wunschdenken mischt sich vielleicht in ihre Wahrnehmung? Wird ein Stimmfetzen nicht automatisch zu der Stimme ergänzt, die man dringend hören MÖCHTE?
Vielleicht beginnt sie eines Tages, Fragen in den Hörer zu stellen. Nehmen wir einmal an, auf manche Fragen bekommt sie sogar eine unmittelbare Reaktion. Da ist dieses Lied, das sie abspielt – was mit einem sofortigen Abbruch des Telefonats auf der anderen Seite quittiert wird. Hm. War das Zufall? Oder Absicht? Will ihr jemand etwas mitteilen? Wenn ja, WAS? „Was wollen Sie?“, schreit sie dann und wann vielleicht mit den Nerven am Ende in den Hörer. „Warum rufen Sie mich an und sprechen dann nicht mit mir? Warum? W A R U M ???
Manchmal weint sie vielleicht auch leise vor Anspannung, Ratlosigkeit und nervöser Verzweiflung in den Hörer – und fühlt sich sogar ein wenig von dem Schlucken und Husten, vom Räuspern und von leise, leise dahin gemurmelten Wortfetzen aufgefangen. Endlich – ein Wort, ein leise und rasch gemurmeltes Wort! So sehr hat sie es sich gewünscht und dann … dann haben ein Rauschen in der Leitung, ihre innere Anspannung und die geringe Lautstärke es verschluckt.
Stell dir vor, wir schreiben inzwischen Sommer des darauffolgenden Jahres. Inzwischen hat die Frau des Öfteren einzelne Worte, mehr gemurmelt als gesprochen, vom anderen Ende der Leitung vernommen. Und sie ist selig über Worte, denn Worte … Worte bedeuten sehr viel in ihrer Welt. Sie ist so hin- und her gerissen zwischen Traurigkeit, Wut und hunderttausend Fragen. Diese mysteriösen Anrufe … Ob es einen Zusammenhang gibt, zwischen den Anrufen und dem Menschen, den sie so sehr vermisst? Was meinst du, was könnte alles in ihrem Kopf vorgehen? Seit mehr als einem halben Jahr analysiert und überlegt sie. Sie kombiniert, sie überdenkt mögliche infrage kommende Personen und verwirft sie dann wieder. Doch jedes Telefonat ist hoffnungsgekrönt, dass dieses Telefon eine Art Brücke sei. Eine Brücke in eine Welt, zu der sie keinen Zugang mehr hat. Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, was diese Frau innerlich alles durchmacht? Welche Gefühle durchrasen sie, welche Gedanken gehen ihr möglicherweise durch den Kopf?
- Wer ist so hartnäckig? Wer nimmt sich die Zeit, sie so lange atmend anzuschweigen?
- Wer weiß so viel, dass er auf einige ihrer prüfenden, tastenden Fragen definitiv richtig „antworten“ kann ?
- Was möchte diese Person von ihr? Welches Motiv hat diese Person?
- Ist diese Person vielleicht aus Versehen bei ihr gelandet ? Hat sie damals aus Einsamkeit heraus irgendeine Nummer gewählt und ist dann bei ihr „hängen“ geblieben?
- Oder hat diese Person gezielt ganz speziell SIE angerufen?
- Woher kennt diese Person die Nummer? Um die Nummer zu wissen, müsste die Person ihren Namen wissen, oder ihre Adresse, oder beides.
Spinnen wir die Geschichte weiter. Plötzlich, eines Tages, konfrontiert die Frau die Person am anderen Ende der Leitung damit, dass sie weiß, wer diese Person N I C H T ist.
Und dann … stellen wir uns einmal vor, es käme etwas völlig Unerwartetes. Stellen wir uns einmal vor, plötzlich springt ihr eine Stimme förmlich aus dem Hörer entgegen. Wild und ungezügelt wie eine Raubkatze. Aus dem Hinterhalt des Telefonhörers kommt sie im Strecksprung, zischend, fauchend, zynisch, harsch und hämisch kichernd. "Warum lachen Sie? WAS gibt es da zu lachen?" , fragt die Frau vielleicht tapfer, während ihre Knie zittern.
Die Stimme lacht und lacht. Übergießt sie dann mit bösen Worten, vielleicht gar mit einer Drohung, mit einer gemeinen, völlig irrationalen Ankündigung.
Und die Frau lässt den Hörer sinken und kann vor Schock nicht mal sagen, ob dies eine männliche, oder weibliche Stimme war. Vor Augen hat sie nichts als diese Raubkatze, die sich ihr nach 7 Monaten aus dem Hörer entgegenwarf.
Was meinst du, wie spinnt sich fortan unsere kleine Geschichte wohl weiter? Wird sie sitzen, die arme Frau, völlig paralysiert und verstört im Halbdunkel? Wird sie in der Stille den Hörer fixieren und vor jedem Telefonklingeln ebenso große Angst entwickeln wie vor einem für immer verstummten Apparat?
Was glaubst du?
Was glaube ich?
Ich frage mich oft, wie viel Leid und Last ein Menschenherz fassen kann. Ich stelle mir ein menschliches Herz als ein schlichtes Weidenkörbchen vor. Es besitzt ein gewisses Fassungsvermögen. Mehr geht nicht. Dann sprengt es auseinander: die Verbindungen lösen sich, und was einst ineinandergriff und für festen Halt sorgte, ist in alle Richtungen zerstreut. Der Korb ist nun nichts weiter als ein Bündel zerstreuter Äste. Und auf diesem kann man alles Leid, alle Last und allen Schutt der Welt abladen.
Ist das Herz zerbrochen, ist der Mensch innerlich gebrochen und der Welt schutzlos ausgeliefert.
Was wissen manche Menschen vom Menschsein? Was wissen manche Menschen, wie viel Leid man in Liebe aufnehmen kann? Liebe bereitet oft das Leid, das sie anschließend wieder heilt.
Ich lege Zweige von Lavendel in meinen Herzens-Korb und wünsche mir Heilung. Für alle beide. Für jene bedauernswerte Frau, aber auch für jene Person am anderen Ende der Leitung.
erschienen auf
www.lavendel-lyrik.jimdo.com im BLOG
6-2017, Anouk Ferez
Kommentare
Das Leben birgt viele Geheimnisse
und das was wir NICHT wissen bringt uns weiter, hält die Gedanken am kreisen , ja treibt sogar die Evolution voran ...
Sehr gern gelesen Anouk
LG Micha
@ Michael
Was du sagst, ist wahr... ich habe mir lange den Kopf über eine solche mögliche Situation zerbrochen und ein möglicher Schluss , zu dem ich kam ist, dass es folgende Veranlassung für einen möglichen Fall ( wie der von mir in der Geschichte beschrieben) geben könnte: jemand möchte sich permanent ins Gedächtnis rufen. Jemand möchte auf jene Weise auf sich aufmerksam machen . Jemand möchte die Gedanken desjenigen, bei dem er/sie anonym anruft, beständig in einem Kreislauf halten. Die Gedanken immer wieder ablenken und zwar auf sich. Natürlich lockt das Unerkannte mehr zu Vermutungen als das Bekannte. Man überlegt wahrshceinlich einen möglichen "Täterkreis", überlegt sich wer welches Motiv haben könnte, wem überhaupt mögliche Zeitfenster für eine solche Aktion offen stehen, zu wem die Hintergrundgeräusche passen und und und. Am meisten aber wird man sich - wahrscheinlich- überlegen: WER hat ein solche Ausdauer und WARUM. Und welches Motiv steckt dahinter. Einsamkeit? Hass? Liebe? Langweile? Rachsucht?
Du hast recht, Michael, es ist das Unbekannte. Vielleicht gepaart mit dem Wunsch, Bekanntes darin zu finden..
Danke fürs Lesen und Deine Rückmeldung
lG
Anouk
Du beziehst den Leser aktiv in den Aufbau einer Geschichte mit ein. Genau diese Fragen könnten sich bei einem Schriftsteller bilden, aus deren Antworten er später seine Erzählung den Lesern vorstellt. Das beeindruckt. Ebenso wie die vielen angedeuteten Wege, in die sich die Geschichte hinein entwickeln könnte.
In der Realität würde ich ein solches Verhalten eines Anrufers nur sehr begrenzte Zeit "dulden" und mich nicht so vereinnahmen lassen. Wer meint, mir etwas zu sagen zu haben, darf es gerne tun. Wenn nicht – meine Mutter hatte ein probates Mittel: Eine Trillerpfeife (ich halte sie in Ehren) neben dem Telefon. Die Anrufe damals hörten abrupt auf.
@ Noé
Danke, liebe Noé, fürs Lesen und Deinen Kommentar mitsamt praktikablem Lösungsvorschlag
:-)
Ich denke, die Frau, die ich in meiner hypothetischen Geschichte bzw. der "Geschichte vor einer Geschichte" ( Geschichten-Vorstufe) beschreibe, ist allerdings zu empfindsam für eine solche wirksame Lösung, wie du sie beschreibst. Ich könnte mir vorstellen sie möchte niemanden willentlich verletzten, da sie schon darunter leidet, den/ die eine(n) oder andere(n) unwillentlich verletzt zu haben. Es gibt derlei sensible Menschen, sie sind nicht selten die "Verlierer" und geraten leicht in eine Opfer-Rolle. Was unschön ist. Man sollte es nie gegen jemanden ausnutzen, wenn er/sie lieb und rücksichtsvoll ist.
Danke für die interessanten Aspekte, die du in meiner hypothetischen Konstruktion siehst!
Ich habe innerhalb der letzten Jahre einige Kurzgeschichten und Jugendroman geschrieben und oft nach dem Kartenprinzip gearbeitet. Ich habe mir immer auf Kärtchen mögliche Situations-Einstiege und mögliche Situationsausstiege (Lösungen) aufgeschrieben und diese immer unterschiedlich kombiniert, um mir wahrscheinliche und eher unwahrscheinliche Möglichkeiten überraschende Momente usw zu "konstruieren". Das Befragen unterschiedlicher Personengruppen ist auch eine beliebte Möglichkeit zu der ich greife ( "Was würdest du denken, wie könnte es weitergehen?" "Was würde dich am meisten umhauen?" "Was würde dich am meisten beruhigen/überraschen/ zufriedenstellen?" "Was hältst du am (un-)wahrscheinlichsten?" usw.)
Danke für deine lange Rückmeldung
herzliche Grüße
Anouk
Mich freut deine lange Einlassung auf meinen nicht kurzen Kommentar, liebe Anouk.
Es liegt mir wirklich fern, jetzt und hier eine noch längere Hin- und Her-Diskussion anzuleiern, denn nichts finde ich "ätzender" und "tödlicher", als wenn die Kommentare zu einem Text diesen fast erschlagen (weshalb ich zumeist auch ziemlich "einsilbig" kommentiere).
Aber eine kleine Anmerkung drängt dann doch noch nach "oben": "Ich könnte mir vorstellen sie möchte niemanden willentlich verletzten, da sie schon darunter leidet, den/ die eine(n) oder andere(n) unwillentlich verletzt zu haben.", schreibst du. Richtig! Aber dann gibt es das (Fehl-?)Verhalten des Permanentanrufers: Das empfände ICH schon als einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und ebenfalls durchaus als eine Art massiver Verletzung - der Angerufenen. Weshalb ich einem solchen Tun ein drastisches Ende setzen würde. Hoffen wir, dass ich nie zu dieser Maßnahme greifen müsste.
Der Tipp mit den Karten, der ist genial. Danke dafür!
Und verzeih mir mein insistentes Platzgreifen.
Nochmals Dank und einen angenehmen Sonntag noch, dir!
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