Nick und das Versprechen

Bild von Monika Laakes
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Frühling. März und 18 °C in der Sonne. Dann dieses Klischee. Das konnte nur Nick passieren.
Jung. Prall. Wunderschön. Eben ein Versprechen.
Er sah sie eilfertig die Gäste des Biergartens bedienen. Heute waren zum ersten Mal in diesem Jahr Tische und Stühle rausgestellt worden. Saisonbeginn.
Und ihr honigblondes Haar floss über die Schultern bis zu den Hüften. Und wenn die Sonne Reflexe schickte, dann brannte die Luft um ihren Kopf lichterloh. Brannte sich in Nicks Seele ein.
Frühling. Und dieses Brennen der Seele.
Nick musste immer wieder hinschauen. Was hat sie hier verloren? Warum macht sie diesen unerfreulichen Job? Viel Arbeit, wenig Lohn. Hat sie das nötig? Er hat sie schon mal gesehen. Im Fernsehen vor einem Millionenpublikum. Ja. Mit Sicherheit ist sie das. Oder? Ist sie dieses Top-Model oder die Pop-Ikone? Nick grübelte. Ließ sie aber nicht aus den Augen.
Mit welcher Anmut und bar jeder Anstrengung sie schwere Krüge mit Bier zelebrierte. Sie schleppte nicht, sie bediente nicht, sie zelebrierte.
Nick stand immer noch am Straßenrand, unschlüssig, welchen Weg er einschlagen sollte. Einige Gäste drehten sich schon nach ihm um. Nick schlenderte zum nächstgelegenen freien Tisch. Zog schwungvoll den Stuhl zu sich heran. Ließ seinen Körper darauf fallen, legte den linken Fußknöchel übern rechten Oberschenkel, hielt das Bein gespreizt. Er verharrte. Sie kam an seinen Tisch. Kastanienbraune, halbmondförmige Augen musterten sein übergeschlagenes Bein, das Nick nun nicht mehr bewegen konnte. Ischiasschmerzen sind wie ein Trip durch die Hölle.
>Und?< hörte er sie fragen, >was darf’s sein?<
Nick schwieg. Diese Stimme wollte er nochmals hören. Rauchig, tief, melodiös. Wenn er sich regungslos verhielt, dann konnte er die Schmerzen ertragen. Er schaute in ihr Gesicht. So offen hatte ihn lange keine junge Frau mehr angesehen.
>Und?< wiederholte sie. Ihr Blick ging über Nicks Gesicht, schweifte in die Ferne, dann zurück zu ihm. Die Augen voller Himmel, Wolken und Sonne. Nick sah ihren Wimpernschlag. Wie brannte seine Seele.
Was sind schon 70 Jahre? Nick kannte seine glatte Haut, sein dichtes, inzwischen seidenweißes Haar. Die wenigen Falten um Augen und Mundwinkel machten seine Gesichtszüge sympathisch. Nick lächelte gerne und oft. Vor allem in Gegenwart von Frauen. Er zwinkerte der Schönen zu.
>Ja, was empfehlen Sie mir?<
Seine Stimme, eine Mischung aus Sirup und Reibeisen. Sie kniff ihm ein Auge zu. Dann ihre rauchige Stimme:
>Unser Weizenbier. Frisch gezapft.<
>O.k.< hauchte Nick in ihre Richtung.
Ein kurzes Nicken und sie entfernte sich. Ihr Hüftschwung war beeindruckend. Nick liebte Kamele und deren weichelastischen Gang. Er liebte Boxer-Hunde und deren rotierendes Hinterteil. Nick liebte alles Weiche, Wiegende.
Plötzlich fror er. Erinnern lässt bisweilen frösteln.
Wenn Mann nicht mehr kann, welch ein fataler Gedanke. Nick fror bis auf die Knochen. Dann stand sein Weizenbier vor ihm. Ihr Haar berührte sein Gesicht.
>Sonst noch was?<
Ihre Stimme, unwirklich lockend.
>Sonst noch was?<
Nick atmete schwer. Er hielt ihr Gesicht in beiden Händen. Er tastete sich zart, weich, vibrierend zu ihrem halb geöffneten Mund. Prall, zum Eintauchen in eine ungeahnte Verheißung. Zum Eintauchen.
Nicks Hände auf der Wanderschaft. Zwei große Hände voll warmen, zuckenden Fleisches. Zwei große Hände voll.
Nick liebte Kamele, deren weichelastischen Gang. Nick liebte Boxer-Hunde, deren rotierendes Hinterteil. Nick liebte alles Weiche, Wiegende.
Gras im Frühlingswind. Drinnen und drunter und drüber. Busen, Lippen, langes weizenfarbiges Haar. Und drinnen und drunter und drüber. Nick im Frühling. Im März bei 18 °C in der Sonne.
>Sonst noch was?<
Die Stimme holte ihn aus seinem Traum zurück. Die Schöne hatte sich aufgerichtet. Lächelte. Es war Frühling. Irgendetwas schon Tot-geglaubtes regte sich wieder in ihm. Vergessen der Ischiasschmerz. Vergessen die angesammelten Zipperlein. Nick fühlte Freiheit.
70 Jahre. Alles ist möglich. Nick und das Wunder einer Auferstehung im Biergarten im März im frühen Frühling bei 18 °C.
Das war wie ein Versprechen. Das machte Nick glücklich. Und frei. Frei, wie der Junge, der er einmal war mit dem Versprechen auf mächtig viel Leben.

in Freiheit 2005

Interne Verweise

Kommentare

03. Jan 2016

Das Leben strömt aus diesen Zeilen -
Frei - mit dem Leser sich zu teilen...

LG Axel

04. Jan 2016

So charmante Kommentare gibt's nicht alle Tage.
Lieben Dank an Axel und an Alfred
LG Monika

13. Jun 2016

Leider kann ich da nicht mitreden... ich bin erst 68 :-)), aber: spannend geschrieben, der Ausdruck macht Eindruck ! ...weiterhin viel Freude am kreativen Schaffen !
Beste Grüße
Alfred Krieger

13. Jun 2016

Ganz lieben Dank! Allerdings ist Fantasie doch grenzenlos und alterslos.
Beste Grüße zurück an Alfred
von Monika

15. Mär 2018

Dankeschön, lieber Willi, für Dein lesenswert. Nick war lange schon in der Versenkung verschwunden.
Und wie er sich jetzt freut.

Liebe Grüße,
Monika