Grauer Morgen

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von Heide Nöchel (noé)

„Ach: Oma!!“, entfuhr es mir überrascht, als ich sie auf dem Foto erkannte. Sie trug einen hellen Trenchcoat und einen schwarzen Männerhut, wie sie da so an dem Restauranttisch saß, als säße sie mir gegenüber, ihr Abstand haltendes, immer leicht bedrohlich wirkendes Halb-Lächeln auf dem Gesicht. Die Sachen gehörten Onkel Bernward, ihrem angeheirateten Sohn aus der Banker-Branche, der ganze zwanzig Jahre älter war als meine Mutter.

Ein plötzlicher Schmerz schnürte mir den Atem ab und das Foto landete mit dem Gesicht nach oben auf dem Stapel der anderen, die noch verkehrt herum vor mir lagen, weil ich sie mir wohl noch ansehen sollte.

Mein Vater hatte sie mir – üblich bei ihm – wortlos über den Tisch geschoben; er saß mir tatsächlich gegenüber an diesem grauen, feuchten Nebelmorgen, an dem man Tröpfchen einatmete, der zusammengeklappte Sonnenschirm neben ihm wirkte surreal.

Wir saßen draußen, denn alles andere war verbrannt. Als sie dann ankamen, hatten wir uns an den L-förmigen Tisch verzogen, der beim unbewohnten Nachbarhaus auf der Veranda stand.

Mein Bruder saß leicht versetzt hinter-neben mir und wusste wieder nicht, wie er reagieren sollte, als ein scharfer Schnitt mir in die Lungen fuhr und meine Tränen freilegte. Ich spürte einen Moment lang seine Hand meine Schulter streifen, aber wahrscheinlich, weil sie nackt war, hielt er irritiert und ratlos inne. Auch Onkel Berthel sagte nichts, der genauso wortlos in der Ecke des L-förmigen Tisches aus rohen Holzbohlen saß, einen Ellenbogen aufgestützt.

Onkel Berthel hieß eigentlich Onkel Paule, ältester Bruder von Oma, hatte aber jetzt das Aussehen seiner Frau angenommen, wenn auch nicht ihr für sie typisches Verhalten. Sie hätte in einem Trommelfeuer ihre Berliner Kodderschnauze abgefeuert, wie sie es immer tat, bevor sie ihren Verstand dazu schaltete. Onkel Berthel jedoch verhielt sich wie sein jüngerer Bruder Walter, der eigentlich Anton hieß, was ihm aber nie gefallen hatte, weshalb man ihn auch nur hinter vorgehaltener Hand mit einem süffisanten Grinsen so nannte. Onkel Walter war immer sehr verbissen und eher still, und so saß Onkel Berthel jetzt in dieser unheilschwangeren Stille.

Die ganze Nacht hatte ich mit dem Feuer gekämpft und verloren. Zum Schluss war nur noch die Anzeigetafel wichtig gewesen, die vor dem Haus stand, immer noch stand. Eine der Birnenfassungen war rätselhaft. Die Birne funktionierte, ich hatte es ausprobiert, mehrere Male, aber an der Anzeigetafel war es die einzige Birne, die nicht brannte. Immer schlich meine Freundin seltsam tatenlos um mich herum. Sie hatte anscheinend nichts anderes zu tun, als mich zu beobachten, welche Experimente ich mit dieser Glühbirne anstellte, die einfach nicht funktionieren wollte. Als ich den Grund herausfand, bemerkte ich ihren scheelen Blick und wusste, dass sie gar nicht meine Freundin war und dass es sie gewesen war, die alles sabotiert hatte. Diese Stelle der Anzeigetafel sollte nicht leuchten, das wäre nicht in ihrem Sinne gewesen.

Dann kamen die anderen und ich schlang meine Bettdecke um mich, so dass meine Schultern frei blieben. Es war nichts mehr da, nur noch rußende, qualmende Pfeiler, so setzten wir uns auf die Nachbarveranda, sprachlos und leer, und mein Vater hatte die Fotos ausgepackt, die ich mir ansehen sollte.

Auf den ersten Bildern sah man See-Szenen, im Hintergrund Berge, und meine Schwester mit ihren beiden Mädchen. Schnappschüsse einer Urlaubs-Performance, aber ohne die Leichtigkeit, die man vielleicht hätte erwarten dürfen. Sie schienen ernst etwas Einstudiertes aufzuführen und überall hoppelten ziemlich große Kaninchen durchs Bild. Die Fotos wirkten bearbeitet, denn die Oberfläche zeigte große Wassertropfen als gestalterisches Element, was den Hintergrund des Sees in den Vordergrund zog, denn unter Wasser konnte es ja nicht sein.

Als nächstes hatte ich von dem Stapel der umgedrehten Fotos dasjenige genommen, das meine Oma zeigte. Der Schmerz kam völlig überraschend und überwältigte mich.

Das riss mich aus meinem Schlaf. Ich fand mich in meinem Bett, mit Tränen in den Augen, meine Bettdecke ließ meine Schultern frei.

Jetzt wurde mir auch klar, warum Onkel Paule wie Tante Berthel ausgesehen hatte und sich wie Onkel Walter verhielt, der eigentlich Anton hieß – sie waren alle schon lange tot. Genauso wie mein Vater, meine Mutter, meine Oma und Onkel Bernward.

Nur meine Schwester und ihre beiden Mädchen leben noch und performen ihr Leben gekonnt. Und mein Bruder ist an meiner Seite, auch wenn er wahrhaft verunsichert darin ist, seine Zuneigung zu zeigen.

noé/2016

Prosa in Kategorie: 
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