Sagt, kennt Ihr das auch? In seinen eigenen uralten Gedichten zu stöbern, ist beinahe so, wie einen Brief an sich selbst zu lesen. Und plötzlich fragt man sich: Schrieb ich mir einst aus der Zukunft an die Gegenwart, oder aber ist es umgekehrt? Ist dies vielleicht ein "Brief" eines kleinen Mädchens (oder Jungen) an die Frau (bzw. an den Mann), die (der) es/er einmal werden wird?
Und dann, wenn man in seinen eigenen längst in Vergessenheit geratenen Zeilen versinkt, geschieht plötzlich etwas Sonderbares. Denn wenn man in die schwüle Atmosphäre einst gespürter Worte (Worte, die man selbst geatmet, selbst gebrütet, selbst ins Papier gebrannt hat!) unvermittelt eintaucht...ja, dann spürt man mit jeder einzelnen Faser, dass es so etwas wie "Zeit" an und für sich gar nicht gibt. Dann ahnt man, dass keinerlei Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren! Dann ist man sich nahezu sicher, dass alles eins ist und dass dieses "eins" alles ist... Und dass man bereits als Kind wusste, wer man IST (und nicht, wer man einmal sein wird...) Und dann spürt man, dass eben dieses Mädchen (oder eben dieser Junge) damals schon die Hand jener Frau ( oder jenes Mannes) hielt, die/der man nun ist und der/die man schon immer war....
Manchmal denke ich, jeder Mensch ist vergleichbar mit einem Samenkorn, in dem bereits der ganze Baum schlummert: Man ist schon als Baby, schon als Embryo dieser Baum, der sich nur nach außen sichtbar Zentimeter für Zentimeter entfaltet, seine Arme in den Himmel streckt und seine Wurzeln tief im Boden vergräbt. Aber im Inneren, da weiß man von Anbeginn: er ist schon da! Dieser Baum ist seit JEHER da - und das bereits längst vor dem ersten Atemzug, dem ersten Sonnenstrahl, dem ersten Puls. Und der Greis, der Erwachsene und das Baby existieren parallel ... Oder aber ist ALLES, unser komplettes Dasein und jegliche Existenz bloß pure Illusion?
Dies ist mein eigener Text aus den 90-er Jahren, über den ich heute gestrauchelt bin.. Er fiel mir auf einem vergilbten Zettel aus einem alten verstaubten Tagebuch undatiert entgegen. Plötzlich waren so unglaublich viele Jahre vergangen. Ich war wieder plötzlich wieder ein Mädchen und weinte.
19XX:
ICH HATTE HUNGER und wusste es nicht.
Hunger nach mehr Gerechtigkeit.
Jetzt, da ich ihn nicht stillen kann,
rechtelos, verkannt,
ERKENNE ich
ICH HATTE SEHNSUCHT und wusste es nicht,
Sehnsucht nach Liebe.
Jetzt, da ich selbst keine geben kann,
ungewollt, verlassen,
SPÜRE ich.
ICH HATTE HOFFNUNG und wusste es nicht.
Hoffnung auf Frieden.
Jetzt, da der Krieg gekommen ist,
berechnend, rücksichtslos,
BEMERKE ich.
ICH HATTE GLAUBEN und wusste es nicht,
Glauben an mich und die Welt.
Jetzt, da die Zerstörung kam,
vernichtend, gefährlich,
ERFAHRE ich.
JETZT, DA DIE VERZWEIFLUNG KAM,
fand ich mich.
Ich hungerte, ich liebte,
ich hoffte, ich glaubte...
-IHR MERKTET ES NICHT.
A.G.W (Anouk Ferez) , irgendwann in den 90-ern...
Dies ist ein alter Text irgendwann aus den 90-er Jahren von mir. Er fiel mir aus einem verschlissenen rosa Tagebuch entgegen. Er hat mich sehr aufgewühlt. Also habe ich getan, was ich immer tu: ich schreibe mich frei...