Seiten
Aber der Fuchs kam auf seinen Gedanken
zurück: „... und dann schau! Du siehst da drüben
die Weizenfelder? Ich esse kein Brot. Für mich ist der Weizen
zwecklos. Die Weizenfelder erinnern mich
an nichts. Aber du hast weizenblondes Haar. Oh, es wird
wunderbar, wenn du mich einmal gezähmt hast! Das Gold der
Weizenfelder wird mich an dich erinnern. Und ich werde das
Rauschen des Windes im Getreide liebgewinnen.“
(Antonine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz)
Kora
(Teil 16; 1. Hälfte)
Wieder einmal begaben wir uns auf die Suche, Hannes und ich. Aber diesmal waren unsere „Begräbnismienen“ echt. Die Sorge um Kora drückte mich nieder wie eine Zentnerlast, und Hannes, bleich wie ein unschuldiges, blütenweißes Segel, fuhr gramgebeugt an meiner Seite. Der Lachauer Forst, dieser herrlicher Wald, lag vor uns wie ein pechschwarzer, unheimlicher Schlund, der junge Mädchen einsog und gierig verschlang, und die gewaltigen Arme der Tannen und Schwarzfichten schaukelten im Wind wie hungrige Kraken, die Hannes und mich gefangen nehmen und zu den Mädchen in den Schlund stopfen wollten.
„Wo um alles in der Welt steckt Kora? Wer, zum Teufel, hat Kora gekidnappt?“, wütete Hannes, ballte eine Hand zur Faust und kam mit dem Rad ins Schlingern. Er wäre um ein Haar auf dem Waldboden gelandet.
„Kooooora! Kooooora!“, schrie er beharrlich in das dämonische, Unheil verkündende Schattenreich.
„Kora“, flüsterte ich, und Tränen schossen mir in die Augen.
Wir waren vor lauter Kummer blind, taub und gefühllos geworden: Blind für das warme, gleißende Sonnenlicht, das sich den Weg durch die funkelnden Gewölbe der Bäume, das in unzähligen Grünschattierungen schimmernde Dickicht der Sträucher und Büsche und durch die hohen, spitzen Halme des verdorrten Unkrauts bahnte, taub für das heitere, unbekümmerte Jubilieren der Vögel und das sanfte, schwatzhafte Raunen und Wispern der Blätter in der seichten Brise, die durch die Zweige strich – und ohne jedes Gefühl für die heiße Sommerluft, die über die Wege flimmerte, und die kühlen Schattenfelder unter den Bäumen.
„Vielleicht ist sie doch inzwischen auf dem Hof angekommen, Hannes“, stieß ich atemlos hervor, als die mit Apfelbäumen gesäumte Dorfstraße endlich vor uns lag.
„Vergiss es“, sagte Hannes. „Nie und nimmer!“
Wir hatten den gesamten Forst durchquert und nicht das winzigste Lebenszeichen von Kora erhalten. Ich stieg vom Rad, lehnte es an eine der Tannen, die spärlich am Waldrand wuchsen, und ließ mich erschöpft auf das weiche Moospolster fallen.
„Kora wäre nie und nimmer allein durch den Wald gegangen. Dazu ist sie viel zu ängstlich. Sie fürchtet sich sogar vor Wildschweinen. Das müsstest du doch eigentlich mitbekommen haben, Katja.“
Hannes sah mich verärgert an.
„Zum Pilzesuchen wollte sie ja auch alleine in den Wald. Und wenn ich ihr nicht über den Weg gelaufen wäre, wäre sie ohne mich hineingegangen. Das ist so sicher wie das Amen im Gebet“, erwiderte ich.
Ich war wütend auf Hannes, liebe Christine. Er tat so, als ob es meine Schuld sei, dass Kora verschwunden war.
„Sie ist gekidnappt worden“, stieß Hannes hervor. „Wo würdest du jemanden verstecken, den niemand finden soll?“ Er sah mich fragend an.
Ich zog die Schultern hoch und ließ sie deprimiert wieder fallen.
„In einem Erdloch selbstverständlich, Katja“, beantwortete Hannes seine eigene Frage.
„Im Lachauer Forst gibt es keine Erdlöcher, Hannes“, sagte ich.
Der Gedanke, dass Kora in einem mehrere Meter tiefen Erdloch hockte, war mir unerträglich.
„Wenn man keines findet, dann gräbt man sich halt eines“, sagte Hannes leichthin und grinste überheblich auf mich herab. – Er wurde mir langsam unheimlich.
„Wir sollten die Polizei einschalten“, schlug ich vor.
„Auf gar keinen Fall, Katja, schlag dir das aus dem Kopf!“ Er hob abwehrend beide Arme.
„Kannst du dir nicht vorstellen, was dann passiert? Sie würden uns ohne Begleitung keinen Schritt mehr vom Hof lassen. Das kannst du beim besten Willen nicht wollen.“
„Aber Kora ist jetzt viel wichtiger als unsere Freiheit, und außerdem ist es auf dem Hof doch auch ...“
Ich kam nicht weiter. Hannes hatte mich mit einem vernichtenden Blick gestreift und wieder mal „auf stur“ geschaltet. Er hob sein Fahrrad auf und setzte sich auf den Sattel.
„Wir fahren jetzt zurück zu Konny und achten auf Erdlöcher. Gib uns noch eine Chance, Katja.“
Hannes starrte mich an, als wollte er mich hypnotisieren. Seine graublauen Augen flackerten wie Irrlichter in dem schmalen, bleich gewordenen Gesicht. Seine Sommerbräune war entsetzlich fahl geworden.
„Falls wir Kora auf dem Rückweg nicht finden“, fuhr er fort, „können wir immer noch die Polizei informieren.“
„Wie denn?“, fragte ich. „ Dazu müssten wir zurück ins Dorf, mit Konny selbstverständlich. Das kostet viel zu viel Zeit.“
„Ja, das müssen wir dann wohl, Katja“, sagte Hannes. „Was bleibt uns anderes übrig?“
Erdlöcher, dachte ich verächtlich. Wer kommt auf solche hirnrissigen Ideen?
Hannes wandte sich nach einer Weile zu mir um und rief: „Wir rufen jetzt gemeinsam Kora beim Namen, und zwar so laut wie wir können.“
Nach zwanzig Minuten war Hannes vollkommen heiser. Er hörte sich schlimmer an als ein altersschwacher Rabe. Kora hätte bei diesem Gekrächze mit Sicherheit die Flucht ergriffen.
„Mach mal Pause, Hannes“, riet ich ihm. „Das hält ja kein Mensch aus.“
Wir waren auf gut Glück losgeradelt, ohne einer bestimmten Richtung zu folgen. Der Lachauer Forst kam mir mittlerweile wie die sibirische Taiga vor, unermesslich, undurchdringlich und unbesiegbar, wenn man den Worten unseres Geografielehrers Glauben schenken durfte, und ich war erstaunt und unendlich erleichtert, als ich den schmalen, von Schachtelhalmen umsäumten Pfad wiedererkannte, der zu dem alten, im Zerfall begriffenen Unglückshochsitz führte, auf welchem Knut sein Leben verlor.
„Beim Mordsitz machen wir Rast“, sagte Hannes, als habe er meine Gedanken erraten.
„Sag nicht ,Mordsitz'“, fauchte ich ihn an, außer mir vor Wut über seine Gefühlslosigkeit.
„Ich habe es doch nicht so gemeint, Katja. Leg bitte nicht immer jedes Wort auf die Goldwaage“, verteidigte er sich. „Ich darf gar nicht an Konny oder Tante Selma denken, dann wird mir nämlich hundeelend. Und alles nur wegen Knut.“
„Was für ein Unsinn“, rief ich. „Das ist ja wohl der Gipfel! Und alles wegen Knuts Mörder, wolltest du wohl sagen, Hannes?!“
„Meinetwegen“, knurrte er.
Natürlich fanden wir weit und breit kein Erdloch, und ich wies Hannes mit Genugtuung darauf hin.
„Manche legen auch Zweige drüber“, sagte er. „Man kann auf den ersten Blick dann