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nicht so schrecklich gewesen wäre ... meine Großeltern hätten sich köstlich über diesen Typ amüsiert. Der hielt sich wohl für Karl den Großen. Mann, der hat vielleicht gejagt ..., Karl der Große, den mein ich jetzt. Der dusselige Göring natürlich auch. Mit Speer und Säbel, Hirsch- und Saunetzen – und nach der Jagd wurde ganz groß gefeiert. Oder Kaiser Friedrich Barbarossa ...“
„Ja, Hannes, ist ja gut“, unterbrach ich ihn. Für Geschichtsunterricht in Sachen Jagd fehlten mir echt die Nerven.
„Na ja, früher, Katja, so im achtzehnten Jahrhundert, gab es ziemliche Wildschäden auf den Feldern", fuhr des Gutsinspektors Sprößling ungerührt fort, „durch viel zu viel Rot- und Schwarzwild. Die armen Bauern hatten ihre Müh und Not, die Viecher zu verscheuchen, die ihnen die Saat und das gute Getreide wegfraßen. Obendrein wurden sie von den feinen Landesherren auch noch zur Jagdassistenz herangezogen, als ob sie auf ihren Feldern nicht genug zu tun gehabt hätten. Kein Wunder, dass die Geschädigten zu wildern begannen.“
Er sah mich von der Seite an und griente: „Um den Bestand zu dezimieren; was hattest du denn wohl gedacht, Katja ...“
„Mir doch völlig schnuppe“, flüsterte ich genervt.
„Die damalige Obrigkeit hat vielleicht Strafen verhängt“, schickte Hannes schnell nach, als ob mich das aufheitern könnte. „Strafen, sage ich dir: Tod durch den Strang, Brandmarkung, damit man die bösen Buben als solche auch sofort erkennen konnte, Arme brechen und noch viel drastischer.“
„Drastischer geht es wohl kaum“, murmelte ich.
„Aber die einfachen Menschen hielten fest zu den Wilderern. Verpfiffen wurde damals so gut wie niemand von denen. Dazu war der Hass auf die Landesherren und den Adel viel zu groß. Noch nicht mal einen Hasen durften die Bauern fangen, noch nicht mal in ihren eigenen Gärten. Das muss man sich mal vorstellen! Manche Wilderer wurden von der Bevölkerung sogar als Volkshelden verehrt. Kann ich den Leuten auch nicht verdenken. Mein Vater sagt, ein guter Förster sei immer bemüht, dass Wald und Wild sich die Waage halten, damit sein Revier gesund bleibt. Glaubst du etwa, dass Göring dieses Ziel im Auge hatte? Wohl kaum! Selbst heutzutage jagen die meisten Kerle doch nur, weil sie die Monroe oder die Bardot nicht haben können. Deshalb sammeln sie Knochen-Trophäen, sozusagen als Ersatzbefriedigung.“
„Interessante Theorie“, staunte ich.
„Und was treibt zum Beispiel dein Vater, weil er die beiden nicht haben kann? Aber was ich noch viel lieber wüsste: Was wirst du später deshalb mal tun?“
„Wer sagt dir denn, dass die beiden Mädels nicht total auf mich stehn, wenn sie mich erst mal kennengelernt haben?“, fragte Hannes selbstgefällig und schaute mir mit völlig ernster Miene ins Gesicht.
Ich war eine Weile sprachlos, liebe Christine. Von einem derart heftigen Selbstbewusstsein musste man schlicht und einfach überwältigt sein.
Später informierte ich Hannes, dass er nicht die einzige Ameise sei, die auf dieser Welt umherkrabbele und ob ihm das möglicherweise bereits aufgefallen sei.
„Klar“, grinste Hannes , „und du, Katja, du bist ein ... Kärpflingsgrundel.“
„Ein was?“, fragte ich erschrocken.
„Kärpflingsgrundel ... Das ist ein Aquariumfisch aus Sumatra. Wünscht sich Kora heiß und innig. Ist leicht zu halten, aber schwer zu züchten. Muss importiert werden. Ein erfahrener Jagdhund wäre in unserer Situation übrigens optimal“, fand Hannes ohne Übergang.
"Na hör mal“, protestierte ich empört. „Kora ist schließlich keine Wildsau.“
„Nein, das nicht“, grinste Hannes, „aber manchmal benimmt sie sich wie eine dumme Gans.“
„Gänse jagt man nicht!“
„Wildgänse schon!“
„Immer das letzte Wort! Wie Leni!“
„Die gute alte Leni“, seufzte Hannes derart ergriffen, dass es mich nicht gewundert hätte, wären in der nächsten Sekunde niagarafallähnliche Tränenbäche aus seinen Augen gestürzt.
„Sicher vermisst sie mich schon.“
„Dich!?“, fragte ich empört.
„Wen denn sonst?“, wunderte sich Hannes und machte große runde Augen. Ich verfiel in fassungsloses Schweigen.
Wir fuhren noch immer, liebe Christine: auf geheimen Waldpfaden, in die sich meiner Meinung nach noch keine Menschenseele verirrt haben konnte. Ich dachte an die marode, äußerst mysteriöse Jagdhütte, an der ich auf meiner Flucht vor Luzifer vorbeigerast war. Ob Kora sich darin vor lauter Angst versteckt hatte? Oder hielt man sie etwa in dieser Kaluppe gefangen? Aber die Wege, auf denen wir fuhren, wiesen keine Schlaglöcher auf, und es wuchs auch weit und breit kein Moos. Weit und breit keine menschlichen Spuren.
Der Lachauer Forst scheint riesig zu sein, grenzenlos, liebe Christine. Und die Luft darin ist fast noch reiner und frischer als am Meer. Die Gnädigste ist zu Recht stolz auf ihren Wald; aber wenn sie wüsste, was ...
„Dort drüben steht eine Jägerkanzel“, unterbrach Hannes meine Gedanken. „Endlich mal was anderes vor Augen als immer nur Bäume.“ Er deutete auf einen ungewöhnlich hohen, stattlichen Ansitz. Sein Dach war aus Wellbitumen und von außen nicht einsehbar. Die Leiter führte fast senkrecht in das Gitterwerk der Äste einer großen stolzen Eiche mit ausladenden Ästen und gleichmäßig gegliederten Jahresringen, an deren Stamm ein auffälliges weißes Blechschild befestigt war.
„Mann, ist das Teil feudal!“, rief Hannes begeistert aus und entzifferte lautstark die mit schwarzen, ziemlich altmodischen Lettern aufgetragene Inschrift: „Ein Pirschjäger sieht mehr, aber der Ansitzjäger schießt mehr.“
„Ob das tatsächlich wahr ist, Katja? Ich habe immer gedacht, es sei umgekehrt. Jedenfalls ist diese Kanzel keine zwei Jahre alt und mindestens sieben Meter hoch, wetten?“, johlte Hannes begeistert.
Ich fand, er hätte sich seinen Enthusiasmus aufsparen können, bis wir Kora gefunden hatten, Christine.
„Kein Fitzelchen Moos auf den Tritten. Hier machen wir Rast, Katja. Ich kann nicht mehr.“ Hannes ließ sich und sein Fahrrad ins Gras fallen.
„Du hast Recht“, fuhr er fort. „Wir sammeln Konny auf der Landzunge ein und erstatten beim Dorfsheriff Vermisstenanzeige. Und eines verspreche ich dir: Sollten wir Kora jemals lebend wiedersehen, werde ich Konny nie mehr ärgern. Auf Ehrenwort.“
„Pst, halt mal deine Klappe, Hannes“, flüsterte ich aufgeregt.
Ein Geräusch war an meine Ohren gedrungen, praktisch von einer Sekunde auf die nächste, und es hörte sich nicht gerade waldspezifisch an, eher, als scharrte jemand wie irrsinnig mit den Füßen. Aber worauf oder wogegen?
„Hörst du das auch?“, fragte ich Hannes. Er nickte eifrig.
„Das kann unmöglich ein Tier sein“, stellte ich hoffnungsvoll fest.
„Hallo! Hier spricht Edgar Wallace!“ Hannes hatte seine hohlen Hände wie einen Trichter um den Mund gelegt und imitierte perfekt den großen Meister: „Kora, wo bist du? Gib uns ein Zeichen!“
Seine Stimme hatte sich indes soweit erholt, dass sie Kora keinen Schrecken mehr einjagen konnte. Das Scharren wurde unter unseren verzückten Blicken deutlich lauter, und wir spitzten wie verrückt die Ohren. Es hörte sich mittlerweile an, als klopfte jemand mit irgendeinem Gegenstand gegen einen Holzstamm.
„Mit Sicherheit kein Specht“, grinste Hannes. „Der hätte mich nicht verstanden. Oder?“ Er sandte forschende Blicke in die Kronen einiger hoher alter Bäume, die in der Nähe der Kanzel wuchsen.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Hannes, wir sind vielleicht blöd“, stieß ich hervor und stürzte mich auf die Leiter, die zum Ansitz führte. Mit jeder Sprosse, die ich erklomm, wurde das Klopfen stärker. Die Angst verschwand mit einem Mal spurlos aus meinem wie verrückt pochenden Herzen, als ich bemerkte, dass Hannes mir auf den Fersen folgte.
Das Erste, was mir ins Auge fiel, waren Koras Füße, die in festen, braunen Sandalen steckten und an den Gelenken mit einem groben Seil zusammengebunden waren. Sie hieben mit aller Wucht auf die sandigen Bohlen des Fußbodens der Jagdkanzel, und ich war mehr als glücklich darüber, dass es sich bei diesem Gefangenenverlies nicht um einen „Jägerschlagbaum“ handelte, wie man besonders abenteuerliche Konstruktionen zu nennen pflegt, sondern um ein äußerst solides Bauwerk. Das Dach der Kanzel war so hoch, dass man fast aufrecht auf den Bohlen stehen konnte. Mir stieg sofort der Geruch von alten Jägerklamotten in die Nase.
Kora kauerte an der hölzernen Stirnseite dieses luftigen Etablissements und starrte mir mit weit aufgerissenen Augen entgegen. Ihrem entsetzten Blick war deutlich zu entnehmen, welche Ängste sie ausgestanden hatte. Hannes zog ihr den Knebel aus dem Mund, zwei zusammengedrehte, dunkle Damenstrümpfe aus Baumwolle von jener Art, wie Leni sie im Winter trägt. Kora schnappte nach Luft, spuckte voller Ekel auf den Boden, wischte sich mit beiden Händen den Mund aus und sah uns vorwurfsvoll an.
„Binde mich ich auf der Stelle los“, herrschte sie Hannes mit rauher Stimme an, der mit zitternden Händen nach seinem Taschenmesser suchte. Ihre Schultern bebten vor Empörung, aber ihr leichenblasses Gesicht nahm langsam Farbe an. Sie fuhr sich mit einer unwirschen Geste durch die Haare, die an Stirn und Nacken klebten. Hannes' schlechtes Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich hingegen fühlte nichts als Erleichterung. Ich strahlte Kora an und umarmte sie, was sie sich ohne Protest gefallen ließ. Ihr Gesicht war von einem Schleier aus Schweiß und Tränen bedeckt.
„Dem Himmel sei Dank, dass wir dich endlich gefunden haben“, sagte ich, während Hannes sich mit den Handfesseln abmühte.
„Ordinäre Kälberstricke“, knurrte er verächtlich.
„Wer zum Teufel war das, Kora?“, fragte ich und gab mir Mühe, so ruhig wie möglich zu bleiben.