Berlin, Millionenstadt, schickte uns einen Engel in der Not und in unsere abgrundtiefe Müdigkeit: Edith Jankowski! Wir durften im weiträumigen Obergeschoss ihres riesigen Hauses, darin sie allein lebte, unsere Koffer auspacken und uns wohlfühlen.
Wir wussten nämlich nicht, wohin, nachdem wir der Wohnung im Hinterhof, die wir lediglich per Briefkontakt und Telefon für die Dauer unseres Ferienaufenthalts in Berlin angemietet hatten, den Rücken kehren mussten. Kaum, dass die Wohnungstür aufsprang, schlug uns ein bestialischer Gestank entgegen, der nicht allein vom halb geöffneten Kühlschrank rührte, darin mehrere Käsesorten grünlich vor sich hin schimmelten und fädchenweise um die Wette auf diverses halb vergammeltes Obst tropfte, das sich im untersten Fach körperlos faulte. Die Sonne, durch eines der unverhüllten Fenster Feuer ablassend, tat ein Übriges. Ich hätte länger als drei Stunden putzen müssen, bevor wir bereit gewesen wären, uns wenigstens auf die Stühle niederzulassen, die um einen Küchentisch gruppiert waren, vom Zustand der Betten mal ganz zu schweigen.
Es stellte sich heraus, dass das Vermieterehepaar die Wohnung an mehrere Personen vergeben hatte, die sich, nacheinander, „die Schlüssel in die Hand“ geben sollten. Vor uns hatte augenscheinlich eine Kommune mehrere Tage dort genächtigt. Mich durchzuckte später die Frage, ob das Leute von der RAF gewesen sein könnten (DNA gab es in Hülle und Fülle), ob Hanns Martin Schleyer dort gefoltert wurde … aber das konnte doch wohl nicht sein ...
Zum Glück befanden sich noch ein paar Berliner Adressen in meinem Notizbuch, „Inselbewohner“, die auf unser Inserat in einer Berliner Zeitung geantwortet hatten. Darunter war auch die Zuschrift einer Frau Edith Jankowski, die uns eine Wohnung im Obergeschoss ihres Hauses anbot. Das Haus lag in einer sehr guten Wohngegend; die Miete war angemessen.
Mein Gatte (aus heutiger Sicht Exgatte) wählte die Telefonnummer, sprach mit der Dame … und jippie!: Wir, müde bis auf die Knochen, durften kommen – und bleiben …
Frau Jankowski, unser Engel in der Not, war mittleren Alters, nie verheiratet gewesen, ruhig, gebildet, gelassen, besonnen, freundlich, zurückhaltend, intelligent: Alles in allem: Eine Frau mit Verstand und großem Herzen. Außerdem sah sie gut aus, war einfach frisiert (weder aufgedonnert noch sonstwie gestylt) und schlicht, aber geschmackvoll gekleidet. Ich war wie verzaubert von ihrem Wesen und mehr als nur froh, dass uns der vor sich hin gammelnde Stinkkäse im Hinterhaus zu ihr geführt hatte.
Edith hatte das wunderschöne Haus von ihren Eltern geerbt. Ganz allein bewohnte sie es allerdings nicht: Mit ihr lebte noch Falko in diesem Prachtbau: ein Collie, den wir sofort ins Herz schlossen.
Auch das Kind war sehr zufrieden mit dem Quartier, und wir standen noch lange Jahre in Kontakt mit unserem Engel. Als das Kind älter geworden war, durfte es dieses sanfte Wesen ganz allein besuchen. Ich hatte vollstes Vertrauen zu Frau Jankowski, die das Kind einlud, die Ferien bei ihr zu verbringen.
An jenem Abend der Ankunft im Himmel gingen wir früh schlafen, erschöpft von der langen Fahrt nach und durch das pulsierende, uns bis dato noch unbekannte Berlin.
Unser erster Weg am nächsten Tag führte zum Wannsee („Pack die Badehose ein …“), später fuhren wir nach Tegel, den Flughafen im Visier, den wir eigentlich besichtigen wollten, aber vor einer Zufahrt stand ein Pulk vorwiegend älterer Frauen, als erwarteten sie jemanden, der wichtig für sie sei. Wir erkundigten uns beiläufig, wer denn käme, und eine der Ladys sagte: Loki und der Bundeskanzler. Also beschlossen auch wir zu warten – auf Loki und den Herrn Bundeskanzler. Die Frauen trugen kleine Blumensträuße und Bittschriften in den Händen, Petitionen … Ich schätzte, es handelte sich um Heimatvertriebene. Dem Kind war es anscheinend nicht recht, dass wir keine Blumen für Loki dabeihatten; es machte sich mit sehr ernster, sehr entschlossener Miene an einem der nahe gelegenen Röschenbeete zu schaffen, und ich konnte grad noch verhindern, dass größere Löcher entstanden. Loki habe mehr Blumen in ihrem Garten in Hamburg, als Kiesel an der Spree rumlägen, versicherte ich dem Kind, womit es sich schließlich zufrieden gab.
Der Chauffeur fuhr im Schneckentempo an uns vorüber … Loki, leicht amüsiert, aber lieb wie immer, saß neben ihrem Gatten im Fond des Wagens. Die Frauen riefen: „Loki, Loki, Loki!“, stürzten ans offene Fenster und überreichten Blümchen und Petitionen. Mein Exgatte trat einen Schritt vor und fotografierte Lokis Begleiter, den Herrn Bundeskanzler. Er, Helmut, sei zusammengezuckt, habe Angst gehabt, hat mein Ex mir später zugeflüstert, weshalb Helmut Schmidt mir zum ersten Mal sympathisch war, denn schließlich führte die Bundesrepublik, zu deren Kanzler er gewählt wurde, Krieg ... Krieg gegen die RAF, mit der nun wirklich nicht zu spaßen war, wie sich längst herausgestellt hatte. Jedenfalls hat sich jenes Foto, das sich leider nicht mehr in meinem Besitz befindet, in mein Herz gebrannt: Darauf sieht man eine fröhliche, leicht amüsierte Loki nebst Begleiter, dem Herrn Bundeskanzler Helmut Schmidt, Macher und gütiger Gott der Sturmfluten. Die Frage, ob er damals noch Homosexuelle in Männerklos bespitzeln ließ oder erst später mit dem Unfug anfing, lassen wir mal dahingestellt; ich kann sie euch eh nicht beantworten. Möglicherweise jedoch war ihm bereits ein Licht aufgegangen ... dass es ganz andere Konsorten gab, die man im Auge behalten sollte.
Die dritte und letzte Folge könnt ihr/können Sie voraussichtlich am kommenden Sonntag lesen; Untertitel: Das Kind will auf eigene Faust Hanns Martin Schleyer befreien. Wir überlegen ernsthaft, wie man das Versteck der RAF ausfindig machen könnte. Zum nachfolgendem Foto: Ja, auch wir haben das Brandenburger Tor fotografiert; aber niemand von uns wollte mit aufs Bild, selbst das Kind nicht. Wäre das nicht einem Einverständnis mit dem doofen Textinhalt auf der Warntafel gleichgekommen? Mit den beiden Personen auf dem Foto sind wir weder verwandt noch verschwägert. Sie befanden sich zufällig dort ...