O sole mio

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Das Maß ist voll: Zum dritten Mal in dieser Woche stand gestern die Arena unter Blut. Das Gemetzel muss endlich ein Ende haben. O Rom, du menschenver­achtendes Scheusal! Zum Hades mit deiner Mordgier! Ich bin allein auf dem Rachefeldzug und kann nur Zeichen setzen: mit dem Leichnam des brutalen Senators Scipio, den ein Knabe unweit der Via Appia entdeckt hat. Und drei Tage später fand Freya, die Sklavin aus Germania, im Saturntempel die Gebeine dreier Prätoren, die im Kolosseum mit lässigen Gesten über Leben und Tod regierten. Fürwahr, ein satanisches Amt! Er fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn.

„Hält unsere Tochter es nicht mehr für nötig, zum Frühstück zu erscheinen, Silvia?“ Senator Fabatus wandte sich mit ärgerlicher Miene an seine Gattin, die sich eine Aprikose nach der anderen in den Mund stopfte und erst nach spannungsreichen Schweigeminuten zu einer Antwort bereit war; es dauerte provozierend lange, fand der Senator.
„Sabrina Rea fiebert, lieber Junius. Sie hat eine schreckliche Nacht hinter sich“, erkärte Silvia mit theatralischer Stimme. „Die Ärmste wurde von einem Alptraum geplagt, aus dem sie schreiend erwachte. Das ganze Haus war auf den Beinen. Ich bin erstaunt darüber, wie tief sich dein nächtlicher Schlaf gestaltet.“
„Wirf mir bitte nicht auch noch meinen wohlverdienten Schlaf vor“, brummte der Senator, der gar nicht daran dachte, seine Frau darüber aufzuklären, dass er wegen des Tumults kein Auge zubekommen hatte. „Es reicht völlig aus, dass du mir den Umzug nach Rom nicht verzeihen kannst. Aber davon mal abgesehen: Ist es denn ein Wunder, dass unser Kind nicht zur Ruhe kommt? Wie oft schon habe ich dich gebeten, Sabrina daheim zu lassen, wenn du zu diesen abscheulichen Gladiatorenkämpfen stolzierst ‑ als handele es sich dabei um Theaterspiele zu Ehren des Kaisers. Sabrina ist ein empfindsames junges Mädchen, das Bestialitäten solcherart nicht verkraftet.“

„Ich bitte dich, Junius, verleide mir nicht meine kleinen Zerstreuungen. Allein dir zuliebe ertrage ich dieses stinkende Rom und habe im fernen Trier meine besten Freundinnen zurückgelassen. Wer sonst als meine Tochter sollte mich begleiten? Es geht nicht an, dass ich mit Berus allein das Kolosseum besuche und nachts durch die finsteren Gassen Roms streife. Was würden die Leute von uns denken? Aber eh ich’s vergesse: Auf dem Rückweg überraschte uns ein Regenschauer und die Fackel erlosch. Es war schrecklich finster, Lieber, so finster, dass selbst Berus vor Angst gezittert hat. Und Sabrina gar vermutete hinter jeder Zypresse ein entflohenes Raubtier. Du weißt um den Zustand der Straßen im nächtlichen Rom? Stell dir vor: direkt vor meinen Füßen entleerte ein ungezogener Sklave sein Nachtgeschirr, und ich trat mit meinen weißen Peros hinein in den noch dampfenden, übel riechenden Schiss.“
„Ich bitte dich, Silvia, verschone mich mit deinen Fäkalgeschichten; wir sitzen beim Frühstück“, sagte Senator Fabatus und warf seiner Gattin einen missbilligenden Blick zu, während sich sein Herz für den „ungezogenen“ Sklaven erwärmte.
„Im übrigen kannst du beruhigt sein, Lieber“, fuhr Silvia ungerührt fort, „ich habe schon in den frühen Morgenstunden nach Marcus schicken lassen und soeben die Nachricht erhalten, dass er gegen Mittag hier eintreffen wird. Sein Landgut wird nicht gleich verludern, wenn er die Inspektion um einen Tag verschiebt. Du wirst sehen: sind die beiden erst einmal verheiratet, wird Sabrinas Nervenkostüm gewiss stabiler. Marcus liebt sie über alles. Was für eine glänzende Partie: Der Sohn des Stadtpräfekten und Sabrina Rea, unsere einzige Tochter.“

„Der Prätor! Beim Jupiter, der neue Prätor!“ Olus rannte schreiend durch die Sacra via infima, geradewegs auf die Curia zu, wo er den Stadtpräfekten Livius Florus anzutreffen hoffte, der nicht wie üblich in seinem officium saß. Olus sah sich genötigt, die Sitzung des Senats zu unterbrechen; was er zu verkünden hatte, dünkte ihm wichtiger als das ewige Geschwätz über das Prozedere bei der Musterung der Ritter.
„Weshalb stürmst du in unsere Versammlung und schreist wie am Spieß, Sklave? Siehst du nicht, dass wir mit wichtigen Themen beschäftigt sind?“ Senator Fabatus, der auf dem Tribünenplatz stand, unterbrach seinen Vortrag über die Hygiene in den öffentlichen Latrinen Roms und blickte missbilligend in Olus’ blassblaue Augen, in denen das blanke Entsetzen stand.
„Der neue Prätor“, stammelte der verängstigte Sklave, „sein Kopf – im großen Sonnensegel. Wir wollten es soeben einholen, das Blutsegel.“ Ein Tumult hob an. Einige Senatoren sprangen von ihren Bänken. Auch Livius Florus hatte sich von seinem Platz erhoben und rang nach Fassung.
„Silentium, meine Herren“, rief er und setzte leise hinzu: „Der vierte Tote in diesem Monat. Ich befürchte, man will uns ausrotten. Hast du etwas angerührt, Olus?“
„Bewahre, Herr, keinen einzigen Staubkorn“, versicherte Olus den Tränen nahe. Und der enthauptete Leib des Prätors Silio?“, fragte der Stadtpräfekt.
„Keine Spur weit und breit, Herr“, seufzte der Sklave.

„Sabrina!“ Berus schloss die zierliche Römerin fest in seine Arme. „Ist er endlich fort?“ „Ja, Liebster, aber er kommt wieder ‑ zu meinem Leid. Obwohl ‑ Marcus meint es gut mit mir; er hat heftig mit Mutter geschimpft, weil sie mich wieder zu den Kämpfen mitgeschleppt hat. Ginge es nach ihm, würde es dergleichen nicht geben, in keinem Ort der Welt. Im September soll die Hochzeit sein. O, lass uns fliehen, lieber Berus, fort aus diesem blutrünstigen Rom. In deinem Land werden wir gewiss glücklich sein.“
„Wir werden schon bald sehr glücklich sein, mein Herz“, versprach Berus.
„Wie schlammig der Tiber im Sommer ist“, seufzte Sabrina. „Und wie er stinkt ‑ als lägen Hunderte von Leichen darin. Sieh nur, Berus, dort hinten im Buschwerk, was mag das sein?“ Sie deutete auf ein Bündel, das unter Zweigen im grauen Ufersand lag.
„Warte hier, Liebste, ich schaue nach“, sagte Berus und bahnte sich den Weg durch das hohe Gras. Sabrina hörte einen leisen Aufschrei, und Sekunden später stand Berus wieder neben ihr. Er blickte sich nach allen Seiten um und sagte mit gedämpfter Stimme: „Schnell, Sabrina, wir müssen fort. Man darf uns hier nicht zusammen sehen. Ganz davon zu schweigen, dass man uns Sklaven verdächtigt, die letzten Morde begangen zu haben. Dort hinten im Dickicht liegt der Torso des Prätors Silio.“
„Oh, Berus“, schluchzte Sabrina. „Wer um alles in der Welt ist zu solch einer Untat fähig? Sind die Kämpfe im Kolosseum nicht schon entsetzlich genug?“
„Gewiss, Liebes!“ Berus nickte und deutete mit der Hand auf eine Gestalt, die sich eilig vom Ufer entfernte. „Schau nur, dort läuft dein Bruder Camillo.“

Bald wird niemand mehr Kämpfe ausrichten, kleine Sabrina, kein Prätor, kein Ritter, kein Konsul. Wünscht der Kaiser blutiges Spiel, wird Er sich persönlich darum bemühen müssen. Und sind Ihm selbst dann noch die Götter gnädig – ich werde es nicht sein.

„Junius, Lieber, weißt du, wo deine Toga pura hingeraten ist? Ich finde sie nirgends“, wandte sich Silvia bei Tisch an ihren Gatten, und ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Sabrina, mein Kind, du bist so blass. Stimmt etwas nicht?“
„Danke, Mutter, es geht mir gut“, erwiderte Sabrina mit matter Stimme. Senator Fabatus warf seiner Tochter einen besorgten Blick zu.
„Wie ich mich auf unsere Gäste freue!“, zwitscherte Silvia, „den Stadtpräfekten nebst Gattin und natürlich auf Marcus, liebe Sabrina.“ Sie warf ihrer Tochter einen verschwörerischen Blick zu, den Sabrina ignorierte. Was wusste ihre Mutter davon, wie es in ihr aussah. Die verstand mehr von Gladiatoren als von ihrer eigenen Tochter.

„Der Kalbsbraten war köstlich, liebe Silvia“, schwärmte Livius Florus, als man im Garten der Brauteltern bei Datteln in Weinsoße saß. Claudius und Cornelia, die jüngsten Kinder des Präfekten, tobten mit ihrer Dogge auf dem Grundstück herum.
„Hierher, Rex“, rief Cornelia plötzlich.
„Was hat er nur?“, wunderte sich Silvia. Das aufgeregte Tier wühlte wie besessen in einem Blumenbeet neben der Buchsbaumhecke herum.
Livius Florus erhob sich von seinem Platz, eilte zu der gelben, glatthaarigen Dogge und beugte sich über sie. Er zog ein blutbeflecktes weißes Stück Stoff aus der Erde und kehrte damit an den Tisch zurück.
„Deine Toga pura, die ich überall gesucht habe, Lieber“, rief Silvia und schlug sich auf den Mund, als sie sah, dass ihr Gatte erbleichte.

Bald werden wir glücklich sein, Sonne meines Herzens ‑ in Germanien, wie du es dir gewünscht hast. Alles wird gut! Marcus wird dich nie mehr belästigen, nachdem dein Vater als Mörder entlarvt und enthauptet wurde. Und Silvia, deine törichte Mutter, wird ohne ihren Gatten nicht mehr leben wollen, dafür werde ich sorgen. Berus stieß ein hässliches Lachen aus. Niemals, kleine Sabrina, wirst du erfahren, wer in der Toga deines Vaters die Morde begangen hat und dem Stadtpräfekten den Tipp gab, den Hund mitzunehmen, wenn er bei den Eheleuten Fabatus eine sensationelle Überraschung erleben wolle. Dank dir, Rex ‑ alter Schnüffler ...

historischer Krimi

Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: