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grünen Kronendächern tropfte, dämmerte endlich auch ihm, weshalb seine sterbende Beute um die Seele ihres Mörders bangte.
Affengulasch war von jenem Tag an für alle Regen- und Trockenzeiten, die das Leben für ihn, den Großen Häuptling der Sanftmütigen, noch bereit hielt, vom Speisezettel gestrichen. Dreißig Monde lang kämpfte sich Tapferer Büffel durch den dichten Urwald und blickte allen Tieren, die ihm über den Weg liefen, tief in die Augen. Er kletterte auf die uralten Baumriesen zu den Papageien und Chamäleons empor, tauchte hinab zu den Welsen und Blauen Neons, die in den tiefen Gefilden des Japuráflusses den Schlamm aufwühlten, kroch auf Händen und Füßen auf dem Waldboden umher, um mit Schildkröten, Käfern, Raupen und Ameisen Zwiesprache zu halten, ja, er hypnotisierte sogar ein kleines Nashorn und blickte ihm lange in die von ledernen Wulsten umsäumten Augen.
Danach kehrte er in sein Dorf zurück, rief sein Volk zusammen und erklärte mit donnernder Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Beschlossen und verkündet vom Häuptling Tapferer Büffel: Ab heute ist Schluss mit Jagen und Fischen. Wir werden uns fortan nur mehr von Früchten, Maniok und Nüssen ernähren. Basta!“ ‑ Nach dieser Ansprache schlurfte er mit müden Schritten in sein Zelt, ließ sich in seine Hängematte plumpsen und schlief fünf Tage und Nächte an einem Stück. Viele Sanftmütige, denen allein schon beim Anblick von Affengulasch das Wasser im Mund zusammenlief, maulten noch eine ganze Weile herum; aber die sanftmütigen Frauen kochten leckere vegetarische Mahlzeiten, und schon bald hatte niemand mehr Appetit auf Fischsuppe oder Räucherfleisch.
Im Laufe vieler Regenzeiten war es geschehen, dass die Sanftmütigen ihre feindseligen und zanksüchtigen Nachbarvölker einzig und allein mit ihrer sanftmütigen Beharrlichkeit zum Guten bekehrt hatten, wesentlich nachhaltiger freilich, als eine nicht enden wollende Reihe Missionare jemals dazu imstande gewesen wäre. Bei diesen Geschöpfen handelte es sich meist um allzu eifrige Seelenhirten, die fragwürdige Bekehrungsversuche unternahmen, indem sie, mit Bibeln beladen, den Regenwald überschwemmten, um Gottes Wort zu verkünden und Sünden auszurotten, die dort am allerwenigsten vorhanden waren.
Bis zu jenem Zeitpunkt lebten die Urwaldvölker jahrelang in Frieden, und als Großer Häuptling Tapferer Büffel in die ewigen Jagdgründe eingezogen war, übernahm sein ältester Sohn Schneller Falke die Herrschaft über das sanfte Volk. Schneller Falke hatte sich schon vor Jahren in Narjani verguckt, die sich bei den Feindseligen längst nicht so wohl fühlte, wie es deren Häuptling gern gesehen hätte; freilich hatten die Feindseligen sämtliche Kriegsbeile begraben und waren damit beschäftigt, sich auf ihre guten Eigenschaften zu besinnen, was ihnen von Tag zu Tag besser gelang. Ihre Blutrünstigkeit, die während der Blüte‑ und Reifezeit des Großen Häuptlings Tapferer Büffel ihren Höhepunkt erreicht hatte, war gottlob dahingewelkt wie die bleichen Lippen einer Urwaldorchidee.
Schneller Falke, der Narjani, die eine Stupsnase und volle rote Lippen hatte, zu seiner Häuptlingsfrau machen wollte, wartete ungeduldig die Regenzeit ab und begab sich, nachdem die Melodie der letzten Tropfen verklungen war, sogleich auf den beschwerlichen Weg zur Quelle des Purús´. Dort angelangt, spazierte er geradewegs in das Zelt des Häuptlings Heimtückischer Tiger und bat diesen um die Hand seiner Stammesangehörigen Narjani. Schneller Falke wunderte sich insgeheim, wie wenig Heimtückischer Tiger seinem Wunsch entgegensetzte, dachte jedoch nicht weiter darüber nach und überließ ihm und seinem Volk zum Dank elf Baumwollfelder. Nachdem er zusammen mit Narjani sein Flussdorf erreicht hatte, hockte er sich vor die Buschtrommel und lud zum Hochzeitsschmaus ein, und nur sechs Monate später gebar Narjani ihm einen prächtigen Sohn, den sie Manuele nannte. Der Säugling war Heimtückischer Tiger wie aus dem Gesicht geschnitten, aber Schneller Falke, der ebenso klug und weise wie dereinst sein Vater Tapferer Büffel war, verlor darüber kein einziges Wort, denn er liebte Narjani über alles.
Aber nicht allein die Missionarsschwemme machte den Sanftmütigen und den von den Sanftmütigen nahezu bekehrten Streitsüchtigen und Feindseligen zu schaffen. Nachdem die Querelen zwischen den Völkern beendet waren, hatte es sich zugetragen, dass Holzfäller mit schweren Kettensägen die verschlungenen Wege des Dschungels unsicher machten, um all jene Bäume abzuholzen, auf denen die gutherzigen Gorillas ihre Schlafnester errichtet hatten, und nur kurze Zeit später rückten weiße Männer mit krebsrot verschwitzten Gesichtern auf monströsen, geräuschvollen Monstermaschinen an und walzten die alten Urwaldriesen nieder, die umsanken, als wären sie aus weicher Butter. Die weißen Männer nannten das „Rodung“ und redeten unablässig von „Fortschritt“, ein Wort, das im Dschungel die Runde machte. „Fortschritt“, flüsterten sich die Sanftmütigen nachdenklich zu, „Fortschritt“, plapperten die Streitsüchtigen, was aus ihren Mündern verächtlich klang, und die Feindseligen, wenn sie sich am Abend um ihr Lagerfeuer versammelt hatten, blicken einander der Reihe nach an, und einer von ihnen fragte sodann im närrischen Tonfall: „Fortschritt?“, und prompt fingen alle wie verrückt an zu lachen und konnten gar nimmer damit aufhören. Sie wälzten sich auf dem Boden umher, zappelten mit Händen und Füßen, verdrehten die Augen und glucksten unentwegt „Fortschritt, Fortschritt“ ..., bis Heimtückischer Tiger aus seiner Hütte gestürmt kam und sein albernes Volk zur Vernunft rief.
„Fortschritt“, kreischten indes auch die Affen, während sie sich ihr Fell rauften, „Fortschritt“ krächzten die bunten Papageien, und noch so einiges mehr, das ich hier nicht wiederholen möchte, derbe Flüche, die Heimtückischer Tiger fallen ließ, wenn er im Regenwald Affen jagte.
Freilich ließ der Fortschritt nicht lange auf sich warten; vielmehr wurde er von Stunde zu Stunde fortschrittlicher und gefährlicher. Eines Tages brannte der Regenwald, und das Feuer vernichtete unwiederbringlich einen Großteil all jener Pflanzen, die für die Menschheit von unschätzbarem Wert gewesen wären, kostbare Heilkräuter, die noch niemand entdeckt hatte. „Brandrodung“ nannten das die weißen Männer und redeten von Wachstum. „Sehr witzig“, brummten die klugen Gorillas, wann immer dieses Wort fiel. Den Feindseligen indes war das Lachen vergangen. Sie flohen Hals über Kopf nach Tapurucuara, während die Streitsüchtigen gen Fonte Boa stürmten.
Die Sanftmütigen konnten lange Zeit nicht glauben, was sie sahen. Sie standen bis ins Mark erschüttert und mit hängenden Schultern vor ihren Hütten und sahen zu, wie die lodernden Flammen ihren Regenwald fraßen, bis sich Schneller Falke von dem verheerenden Anblick losriß und befahl: „Laßt uns packen, Freunde. Wir müssen unser Dorf verlassen.“ Aber dafür war es zu spät. Schneller Falke hatte die Geschwindigkeit des Feuers unterschätzt. Beißende Rauchschwaden verfinsterten den Dorfplatz und versperrten den Sanftmütigen die Sicht auf ihre Hütten. Und als sich Narjani in die Feuersbrunst stürzen wollte, um Manuele zu retten, der in einer der brennenden Schlafkojen lag, riß Schneller Falke sie zurück und zerrte sie, in der festen Überzeugung, dass das Kind verbrannt sei, zum nahen Flussufer. Er ahnte nicht, dass Chica, deren Sippe in die Nähe der Sanften gezogen war, Manuele aus der schwelenden Hütte geborgen hatte und mit ihm durch den Urwald geeilt war, dorthin, wo die Weißen in ihren Bungalows lebten. Sie hatte den Säugling vor eine der Haustüren gelegt, Sturm geklingelt und sich rasch hinter einem Busch versteckt. Dort hatte sie geduldig ausgeharrt, bis endlich die Tür aufsprang und eine junge Frau auf die Schwelle trat, die den wimmernden Manuele auf ihren Arm hob, ihn liebevoll tröstete und mit in ihr Haus nahm. Als Chica das Kind in guten Händen wusste, eilte sie zurück in den Regenwald, um seine Eltern zu suchen.
Und sollten Schneller Falke und Narjani das Flammeninferno zum Zwecke des Fortschritts unversehrt überstanden haben, schwöre ich bei meinem Leben, dass Chica sie auf dem schnellsten Weg zu Manuele geführt hat.