Die Augen des Gorillas

Bild von Annelie Kelch
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Vor unendlich langer Zeit, als der Regenwald am Amazonas noch nahezu uner­forscht und grenzenlos weit war, gerade so, wie Gott ihn sich ausgedacht und er­schaffen hatte, lebte in dessen smaragdgrüner Tiefe ein Indianerstamm, der sich das Sanftmütige Volk nannte. In den dunklen Gesichtern jener kleinwüchsigen Menschen leuchteten kaffeebraune Augen, und ihre blauschwarzen Haare liebkosten bei jeder Bewegung ihre schmalen, geschmeidigen Schultern. Die Sanftmütigen führten ein glückliches, zufriedenes Leben, denn der Urwald gab ihnen alles, was sie brauchten, um gesund und bei Kräften zu bleiben: saftige Früchte und süße Bananen, Maniok und Nüsse und sauberes Wasser, das in seinem Flussbett, unter nachtsilbrigen Sternen, davon träumte, sich in einen reißenden Strom zu verwandeln.

Im Urwald wuchsen prächtige Palmen mit riesigen, fächerförmigen Blättern, aus denen die Sanftmütigen solide Dächer für ihre Schlafhütten, behagliche Hän­gematten und robuste Sandalen flochten, die selbst den heftigsten Regenzeiten trotzten. Unter dem wilden Gras, das zwischen den immergrünen Büschen und Bäumen emporschoss, dort, wo neben unendlich vielen Käfern die großen Achatschnecken ein unauffälliges Dasein führten, wuchsen seltene Kräuter, die Anthony, der greise Medizinmann der Sanften, fast alle ausprobiert hatte; deshalb hielt er für jede Krankheit die passende Arznei parat. Freilich gediehen zu jener Zeit noch eine Vielzahl weiterer Heilpflanzen im Regenwald, von denen niemand auf der Welt auch nur den blassesten Schimmer hatte; einige Jahre später jedoch ... aber ich will keinesfalls vorweggreifen, sondern euer Augenmerk auf die Menschenaffen lenken, die ursprünglich in den Wäldern Afrikas beheimatet waren, von wo ein Primatenforscher zwei Gorillapärchen in den Regenwald entführte, damit sie sich auch dort vermehrten, denn die schwarzzotteligen Tiere waren vom Aussterben bedroht.
Die gutmütigen Gorillas besuchten das Sanftmütige Volk, sooft ihnen danach zumute war. Sie liebten die kleinen braunen Menschen, die großen Respekt vor den Tieren des Urwalds hatten. Es war sogar einmal vorgekommen, dass von weit, weit her, vom oberen Lauf des Rio Negro, fünf Tagesmärsche vom Japurá entfernt, an dessen Ufer das Flussdorf der Sanftmütigen lag, eine verzweifelte Gorillamutter ihr abgemagertes Kind, das weder Bananen noch Blätterbrei fressen und nicht einmal mehr seine Kokosmilch trinken wollte, in das Dorf der Sanftmütigen schleppte, um Anthony zu bitten, es gesund zu pflegen, und weil ihm das binnen kürzester Zeit gelang, hatten alle Gorillas, die mit Chica, so hieß die Affenmutter, in ein und derselben Sippe lebten, einen ganzen Tag lang Bananen gepflückt und vor die Hütten der Sanftmütigen gelegt. So klug und dankbar waren diese starken und zugleich behutsamen Riesen, die ihre Freiheit im Regenwald über alles liebten. Wie außergewöhnlich klug und tapfer sie tatsächlich waren, sollte sich schon bald herausstellen.

Unweit der Quelle des Purús’ lebte das Feindselige Volk, das noch um einiges böser war als die Streitsüchtigen, deren Stammesmitglieder immer nur Zank suchten und nicht wirklich wollten, dass die Sanftmütigen stürben, denn dann hätten sie ja niemanden mehr gehabt, an dem sie ihre Streitsucht auslassen konnten. Die Feindseligen hingegen, die die Sanftmütigen für schwach und dumm hielten, führte mit großer Begeisterung Kriege. Sie hatten jedem Stamm, der ihnen an Grausamkeit unterlegen war, den Krieg erklärt und sich zum Ziel gesetzt, jene „saft- und kraftlosen“ Völker auszurotten. Kein Mensch, der nicht ebenso böse und gemein war wie die Mitglieder ihres Stammes sollte länger als nötig im Urwald bleiben. „Nur wer so böse und gemein ist wie wir, kann im Regenwald überleben“, schleuderten sie ihren Feinden entgegen, bevor sie sie mit Speeren durchbohrten und skalpierten. Und weil die Sanftmütigen und Streitsüchtigen große Angst vor den Feinseligen hatten, waren im Laufe der Regenzeiten ein paar Sanftmütige zum Feindseligen Volk übergelaufen, darunter Ricos und Malis Tochter Narjani, während das Streitsüchtige Volk gar die Hälfte seines Stammes an die Feindseligen verlor und deshalb nur noch halb so viele Gemeinheiten gegen die Sanftmütigen aushecken konnte, was diese gleichermaßen beglückte wie die tiefe Ergebenheit der Gorillas, die ihnen in brenzligen Situationen zur Seite standen.
Die Sanftmütigen erwachten mit dem Licht der Sonne, nahmen ein Morgenbad im schlaftrunkenen Fluß und stürzten sich anschließend auf ihr knuspriges Fladenbrot aus Maniokmehl, das sie am Abend zuvor gebacken hatten. Waren die Männer satt, verschwanden sie im Dickicht des Regenwalds, um Früchte für das Mittagsmahl zu ernten. Die Frauen pflegten derweil die Erdnussfelder am munter gewordenen, lieblich murmelnden Fluss, knüpften Hängematten, wuschen ihre Wäsche und hüteten ihre Kinder, die im Sand spielten. Abends saßen alle am Lagerfeuer, tranken Palmbeerensaft, sangen alte Indianerlieder und erzählten sich Geschichten ‑ bis einer nach dem anderen vor Müdigkeit auf den Torfboden sank.

Die kleinen braunen Menschen waren sehr darauf bedacht, die Urwüchsigkeit ihrer Heimat zu erhalten. Sie kamen gar nicht erst auf die Idee, sich den Regenwald untertan zu machen, als ahnten sie, welch aussichtsloses Unterfangen dies wäre und dass sie anderenfalls weitaus mehr verlieren als gewinnen würden; denn es gab große Momente in ihrem Leben, in denen gottbegnadete Gedanken wie leuchtende Sterne hinter ihren glänzenden dunklen Stirnen aufblitzten, die ihnen ein untrügliches Gespür dafür gaben, welch unermessliche Bedeutung der Regenwald hatte – nicht allein für sie, die Eingeborenen, sondern auch für den großen Rest der Menschheit auf dieser Welt, der ihnen gänzlich unbekannt war, was sie gewiss nicht bedauert hätten, wäre er in all seiner Unvollkommenheit und mit seinen großen und kleinen Problemen in ihr beschauliches smaragdgrünes Reich gedrungen.
Wilde Tiere jagten die Sanftmütigen schon seit ewigen Zeiten nicht mehr, genau ge­nommen, seit Tapferer Büffel, ihr Großer Häuptling, lange und tief in die leidvollen Augen eines Menschenaffen geblickt hatte, der durch seinen Giftpfeil im Reich der Sterbenden gelandet war. Glaub ja nicht, dass ich keinen Schmerz verspüre, weil ich nicht weine, hätten ihm die nahezu erloschenen Augen des Gorillas erzählt. Und noch etwas glaubte er in dessen schwarzen Pupillen, aus denen wie von einer alten Kastanie der Glanz gewichen war, gelesen zu haben: tiefe, unendliche Trauer; aber das Tier habe keineswegs des eigenen Hinscheidens wegen getrauert, sondern um ihn, den Großen Häuptling Tapferer Büffel. Diese Erkenntnis, die wie ein Blitzschlag durch sein Hirn gezuckt sei, habe ihm nicht nur große Scham bereitet, sondern auch gewaltig zu denken gegeben. Und noch am Abend desselben Tages, als von den Wolken herab der kühle Dämmer durch den Ozean aus

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