Gefährlicher Sommer (Teil 21; Text 2)

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von Annelie Kelch

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Dein Hut lüftet sich leicht, grüßt, schwebt im Wind,
dein unbedeckter Kopf hat 's Wolken angetan,
dein Herz hat anderswo zu tun,
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,
das Zittergras im Land nimmt überhand,
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,
von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,
du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,
was soll dir noch geschehen –
Erklär mir, Liebe!
(Ingeborg Bachmann: „Erklär mir, Liebe ...“)

Spargel, Pflaumenkuchen und Sonnenschirme für die Hühner (Teil 21; Text 2)

„Ich bin schon da, Omi!“, rief ich nach Manier des Igels der Häsin Oma Anita zu, als ich auf der Schwelle der Küche stand.
„Pünktlich, oder?“
„Du kommst viel zu früh“, jammerte Oma, kaum dass ich ein paar Schritte ins Zimmer getan hatte. „Die Kartoffeln sind längst noch nicht gar.“
Nie kann man es Oma recht machen. An allem hat sie was rumzumeckern, dachte ich, und prompt stieg ein bitteres Gefühl in mir hoch. Es legte sich auf Gaumen und Zunge und schmeckte nicht nur pelzig, sondern zugleich essigsauer. Ich bedauerte Mutti mit einem Mal auf das Heftigste, weil ihr das unerträglich erscheinende Los zuteil geworden war, unter Omas rabiater Fuchtel aufwachsen zu müssen.
„Aber ich darf doch wohl hierbleiben? Oder muss ich vor der Tür warten, bis dein Festtagsmahl aufgetischt ist?“, fragte ich ein wenig spöttisch. Oma fixierte mich von Kopf bis Fuß und grummelte nebulöses Zeug in den Stehkragen ihrer neuen grauen Seidenbluse.

„Katja, komm doch zu uns ins Wohnzimmer!“ Tante Sarah zog mich aus der Küche, worin Oma und Mutti größtmögliche Hektik verbreiteten, völlig unangemessen, wie mir schien, selbst dann, wenn Oma den Bürgermeister von Lübeck erwartet hätte (der ohnehin nicht gekommen wäre).
„Onkel Ludwig und ich haben dir ein Geschenk mit­gebracht“. Tante Sarah fuchtelte mit einem Päckchen in der Luft herum. Es sah aus wie ein Karton Pralinen. Hoffentlich ist es ein Buch, dachte ich, liebe Christine. Eines, das ich noch nicht kenne. Dann hat Oma wenigstens nichts davon. Von Pralinen hätte ich ihr nämlich etwas anbieten müssen. Das verlangten die sittlichen Geflogenheiten, die sich in unserer Familie seit Urzeiten manifestiert hatten. Und ich verspürte momentan nicht die geringste Lust, Oma, die gewiss kräftig zugelangt hätte, auch nur ansatzweise irgendetwas Gutes zu tun.

Meine Sorge erwies sich glücklicherweise als unbegründet. Ich förderte nämlich tatsächlich ein Buch zutage, Christine, und obendrein noch eines jener kostbaren Exemplare, die ich noch nicht gelesen habe, mir jedoch seit längerer Zeit in unserer Schülerbücherei ausleihen wollte. Es ist in karminrotes Leinen gebunden, während sich Autor und Titel in vergoldeten Lettern auf dem oberen Buchdeckel präsentieren. Dort steht nämlich in aller Schlicht- und Vornehmheit: „Der Jüngling" ... von Fjodor M. Dostojewski. Gleich darunter findet sich ein kleines, ebenfalls vergoldetes Ornament, das ausschaut wie zwei sich gegenüberliegende Musiknoten, die von einem Paar Wellenlinien durchkreuzt werden. Ich freute mich riesig und wäre am liebsten sofort nach oben in meine Kammer gerannt, um darin zu lesen, aber ich wusste genau, dass Oma mich auf der Stelle zurückpfeifen und mich fragen würde, was mir einfiele, so kurz vor dem Essen zu verschwinden. Ich erhob mich vom „guten“ Sofa und streckte Tante Sarah zum Dank die Hand entgegen. Zu meinem Erstaunen sagte sie lächelnd: „Ludwig und ich hätten auch gerne einen Schmatz auf die Wangen, und zwar von der Art, wie du sie Leni jeden Morgen zuteil werden lässt.“ Wenn es weiter nichts war! Diesen überaus bescheidenen Wunsch erfüllte ich den beiden gern, fragte mich jedoch, wer mal wieder geplaudert hatte. Auf Lachau blieb offenbar nichts geheim.
Opa und Onkel Ludwig, die sich eine Weile über die Sonnenschirme im Hühnergehege amüsiert hatten, begannen ein Gespräch, das die Pick- und Hackordnung innerhalb der Lachauer Hennen zum Thema hatte.

„Ja, ja“, philosophierte Opa nachdenklich, „unter dem Fe­dervieh geht es beinahe so zu wie im Leben der Menschheit. Die schwächsten Tiere sind ständig auf der Flucht vor den gemeinen Schnabelhieben ihrer stärkeren Art­genossen. Sie verkriechen sich an den unmöglichsten Stellen, um Schutz zu fin­den. Meistens sind sie abgemagert und bringen schlechtere Legeleistungen als die anderen, die immer so tun, als könne sie kein Wässerchen trüben, wenn ein Mensch ihr Territorium betritt. Das ist für die Malträtierten oft die einzige Gelegenheit, an Futter und Wasser zu gelangen. Wir können gar nicht oft genug das Gehege aufsuchen, um nach dem Rechten sehen.“
„Oder ihr sorgt für genügend Futterplätze und Trink­gelegenheiten“, schlug Onkel Ludwig vor. „Wenn für jedes Tier genügend Platz ist, kommt wenigstens kein Futterneid auf.“
Opa dachte kurz nach und erwiderte: „Weißt du, Ludwig, was unser Axel mir neulich erzählt hat?! Extrem brutwüti­ge Glucken sollen von nun an auch auf Lachau in einen Entwöhungskäfig ge­setzt werden, der lediglich aus Draht besteht. Er wird an einem der Deckenbalken befestigt, von welchem aus die Glucke ihre MitbewohnerInnen beobachten kann. Die Brutrünstigen (beachte bitte den Ausdruck, liebe Christine!) finden in ihren Käfigen keine einzige warme Stelle, denn die Luft, die mittels Ventilatoren unter dem Käfig erzeugt wird, kühlt sie ab und soll ihnen den Brutinstinkt aus­treiben. Selbstverständlich werden die Tiere mit Nahrung und Wasser versorgt. Sie be­kommen vorzugsweise eiweißreiches Futter. Axel sagt, dass den Glucken schon nach wenigen Tagen die Brutlust gründlich abhanden komme und dass sie ihre Legetätigkeit unverzüglich wieder aufnähmen.“
„Gute Idee, Edmund,“ sagte Onkel Ludwig. „Aber bei den paar Hennen, die Sarah und ich halten, lohnt sich dieser Aufwand nicht.“
***
„Es ist angerichtet! Darf ich die Herrschaften zu Tisch bitten?“ Oma, die auffallend leise die Tür zur kleinen Stube geöffnet hatte, schob ihren Kopf ins Zimmer. Das sieht ihr wieder mal ähnlich, dachte ich. Meistens erkundigt sie sich dann noch: „Redet ihr gerade über mich?“
„Das wurde aber auch endlich Zeit, Anita“, brummte Onkel Ludwig. „Ich bin kurz davor, vom Fleisch zu fallen.“
Tante Sarah stieß ihren Gatten, der so tat, als sei er halb am Verhungern und mich ganz extrem an den armen Oskar erinnerte, in die mollige Hüfte und flüsterte verlegen: „Also bitte, Ludwig!“

Während des Mittagessens drehte sich alles um Spargel – im Allgemeinen und im Besonderen.
„Spargel enthält sehr viel Vitamin C, aber auch eine nicht unbeträchtliche Reihe der B-Vitamine“, spielte sich Mutti als Ernährungsexpertin auf.
„Ein

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