Der Boden ist weich. Um mich ist nichts als Weite. Ich gehe ständig auf den Horizont zu, aber der Horizont ist überall. Ob ich im Kreis gegangen bin? Ich weiß es nicht! Ich weiß aber, daß mich seit einiger Zeit Wort-Halluzinationen heimsuchen. Ich spüre Wörter, die ich nicht gedacht habe. Sie gelangen einfach aus heiterem Himmel in meinen Kopf. Vorhin überfiel mich z. B. die Kombination „Kau-Gummi, Kau-Derwelsch, Kau-Görl“. Ich fragte mich, wer sich da erfrecht, mir was vorzudenken. Sind es Gedanken aus einer anderen Welt?
Als meine Mutter starb, hatte sie bereits Wochen zuvor seltsame Gesichte. Sie erblickte Menschen mit drei Augen, Zimmer mit fließenden Wänden und ausgesprochen kurios verkleidete Gestalten. Nehme ich nun, da ich nicht sterbe, den Widerhall einer magnetisch anders geladenen Schöpfungsregion, auf meine Art wahr?
Von weit hinter dem Horizont glaube ich einen Geruch zu erkennen, der nicht wirklich vorhanden ist. Brennt es dort? „Kon-form-ation“ höre ich, dann „Trans-form-ation“ und schließlich „Uni-form-ation“. Was soll das bedeuten? Eine seltsame Wolke am Himmel versucht mir Auskunft zu geben. Dort schwebt ein Engel aus Wasserdampf. Er spricht nicht, aber das Nebelgebilde verändert sich mit meinen Schritten, mit den Sekunden, den Minuten kaum. „Ich wache über dich“. Wer? Wer hat das gesagt? Jetzt bläst ein Windstoß in die Formation und löst sie auf.
Das Grasland wird weiter. Mein Ein-Blick ist tiefer geworden. Nein, von meiner Person geht ebenfalls etwas aus, das man als „magnetischen Windstoß” bezeichnen könnte. Er verteilt sich in alle Richtungen gleichmäßig, wie das Hintergrundrauschen im Universum. Ich bin der Betrachter! Als Betrachter nehme ich wahr, wie sich eine Landschaft erklärt, wie sich ein Bild von einem Dunstschleier befreit, herausgelöst, sichtbar werdend, wie unter einer an-gehauchten Museumsglasscheibe. Die Umrisse werden deutlicher. „Extrem-Touren“ sagen die Stimmen. Ich muss lachen.
Das Umfeld ist nicht größer geworden – wie sollte es auch (da würde sich ja die Erde stellenweise zu einer Scheibe verflachen) – aber die Sicht ist perspektivischer, deutlicher. Wie eine Landschaft bei Föhn. Über dem Horizont treten jetzt in allen Himmelsrichtungen Fata Morganen auf. Mein Weg scheint im Traum stattzufinden. Traumpfade? Er spult sich ab, abstrakt und surreal. Die Sonne scheint senkrecht auf meinen gedachten Hut – „Absichts-er-Klärungen“. Wieder ein Geisterwort aus dem Nichts. Ich gehe und ich gehe allein? Oder höre ich Schritte neben mir? Ich zucke zusammen … „Du bist im Visier unserer Observation“. Oha.
Ich habe zu phantasieren begonnen. Der Weg war lang und ich habe nicht nur die Orientierung verloren, sondern auch das Wissen um mich selbst, um meine Existenz, um mein Ich. Meine Seele lebt trotzdem, und sie begleitet einen Schatten aus Fleisch und Blut durch die Steppe, hinter deren Horizonten ein Feuer brennt. Das allesverzehrende Feuer des nahenden Untergangs. Ich sehe es in den Luftspiegelungen voraus!
Dann wird mir warm ums Herz „Meine Liebe wird sein wie mein Herz ist – kalt wie Eis und so warm wie das deine." Das habe ich jetzt, melodisch intoniert, aus zwei Mündern gehört. Wer hat den Text gesungen? War's die Natur selbst, oder war es meine fiktive Geist-Begleiterin, deren Fußstapfen ich vor mir entdecke und ver-folge. Es sind sanfte Abdrücke, dezent geschnürt (Fuchsspuren), in den teilweise gebogenen, teilweise geknickten Halmen am Boden.
„Wie viel ist eine Esse“? Eine was?? Schreie ich ohne Widerhall in die Gegend hinein und ich weiß: Nur die Gegenwart wird mich gehört haben, nur meine Gegenwart – und dieses endlose Land, dessen greifbare Grenzen ganz eng um mich gezogen sind, gespannt wie ein elektrischer Weidezaun, gezeichnet wie magische Kreidestriche, gesetzt wie Gitter aus undurchdringlichem Nichts. Dann sehe ich plötzlich eine Welt!
Harlekine tanzen um mich herum, einige von ihnen verkörpern die Rollen von wichtigen Persönlichkeiten, andere deren Handlanger „Von langer Hand langt es dem Hans im Glück“. Vor lauter Lärm höre ich fast die Stimmen nicht mehr. „Er ge-langt, er ver-langt, mit-Ver-langen, mit-ge-hangen“. Ein virtueller Pferdewagen donnert vorbei. Die tiefen Spuren aus gefurchter Erde und zermalmten Halmen sind deutlich sichtbar!
Hände greifen nach mir. „Habe-nichts“. „Geh nicht weg, wir brauchen dich nicht“, rufen mir die Harlekine zu. Ich versuche zu begreifen, aber ich begreife nicht. Ein Gewicht auf meinem Rücken drückt mich plötzlich zu Boden. Es ist ein schwerer Sack, angefüllt mit Pandora-Büchsen.
Die mich umgebenden Ereignisse werden zu stroboskopartigen Sequenzen, die in rasender Folge über das Grasland flackern. Ich komme nur noch ruckartig voran. Die Rucke werden langsamer, die Lichtfolgen der Ereignisprojektionen durchsichtiger, sie beschleunigen sich schwindelerregend und verblassen schließlich in der Mittagssonne. Ich bin scheinbar wieder allein. Ich habe mich fest auf meinen Weg konzentriert, deshalb sind sie verschwunden, wie die Gedanken anderer Lebewesen, die mich nicht beeinflussen können. Nur die Liebe ist noch da. Die Liebe zu einem Wunder „In-spi-Ration, Zuteilungs-Ration, Konspi-Ration“.
„Genau“, sage diesmal ich, halte mir die Hand wie ein Indianer in Stirnhöhe über die Augen und gehe weiter. Der Brandgeruch ist verschwunden, die Spiegelungen ebenfalls, aber es blitzt in der Ferne.
Über mir, hoch oben in der Luft und doch optisch beinahe bis zu mir herunterreichend, tauchen Nordlichter auf. Ein Sonnensturm! Und jetzt kann ich sie erkennen, die Meteoritenschwärme, die sich in dichten Geschwadern nähern. „Meine Mene Tekel Upharsin“. Das habe ich jetzt verstanden! Ich drehe mich um meine eigene Achse und entdecke überall Spuren von mir. Ich bin nicht nur im Kreis gegangen, nein, ich bin fast auf der Stelle getreten. Unter mir ist kaum noch Gras und ich überlege mir, wo ich jetzt noch reinbeißen soll …
Kommentare
Es lohnte jener Gang durchs Gras -
Weil das der Leser gerne las!
LG Axel
Verstörend...
:-))
Und Vielen Dank!
LG Alf