Sturm

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von Susanna Ka

Im vergangenen Herbst, bei der Preisverleihung zur „Autorin des Jahres“ war sie ihm zum ersten Mal begegnet. Der schöne Mann im Smoking hatte die Laudatio gehalten und ihr anschließend die kleine goldene Statue überreicht. Dabei berührte er – scheinbar unabsichtlich – ihre Hand.
Lion’s Blick begegnete dem von Johanna und ließ keinen Zweifel an seinen Absichten.
Johanna kannte solche Blicke und wusste, was kam. Nach dem Ende der offiziellen Feierlichkeiten würde Lion sie zu einem Abendessen einladen und dann…
Nein! Auf einen One-Night-Stand mit dem Verlagsleiter hatte Johanna nun wirklich keine Lust. Nicht nur, weil sie damit ihre Karriere gefährden könnte, sondern auch des Schmerzes wegen, der sich danach unweigerlich einstellen würde. Sie hatte Angst, verletzt zu werden – sich selbst zu verletzen durch die Intensität ihrer eigenen Gefühle. Und auch Angst vor Lion, der innerhalb des Verlages einen zweifelhaften Ruf genoss.
Also fuhr sie nach dem Festakt sofort nach Hause, um der Situation zu entgehen.

In den folgenden Wochen und Monaten ging es in Johannas Gefühlswelt drunter und drüber. Mit ihrer inneren Gelassenheit war es vorbei. Ihr Herz, das sie gerne aus dieser Angelegenheit herausgehalten hätte, erinnerte sie jeden Tag daran, dass sie wieder einmal vor der Liebe davon gelaufen war. Sie hatte nichts riskieren wollen, war feige und floh sich in unerfüllte Träume.

An einem dunklen Februartag saß Johanna bei ihrem Lieblingsitaliener. Sie hatte ihren Nudelteller leer gegessen und hielt nun das Glas mit dem Frascati in der hohlen Hand, so wie andere Leute ihren Weinbrandschwenker. Immer noch kreisten ihre Gedanken um Lion und um das, was hätte sein können.
„Es muss erfüllt werden…“ würde sie in einem ihrer Romane schreiben.
„Es muss erfüllt werden, sonst werden wir nie zur Ruhe kommen.“
Aber Johanna wollte nichts erfüllen, sie hatte Angst davor, sich mit einem realen Mann auseinander zusetzen. Der Mann in ihren Träumen verschwand mit einem Fingerschnipp, aber die Realität war anders. Das hatte sie schon einmal schmerzvoll erfahren müssen.
Gedankenverloren sah sie nach draußen. Selbst jetzt, in der Mittagszeit, war es dämmerig. Zwischen den hohen Häusern konnte sie den Himmel nicht sehen, bemerkte aber, wie das Licht immer farbloser wurde. Der Wetterbericht hatte einen Schneesturm vorausgesagt, und die ersten Flocken tanzten bereits am Fenster vorbei.
Der Sturm erwischte Johanna auf dem Heimweg. Er griff sie von allen Seiten zugleich an. Die hohen Bürohäuser links und rechts der Straße engten ihn ein und verstärkten so seine Kraft. Weiße Flocken umhüllten sie, nahmen ihr die Sicht und den Atem, krochen in ihre Kapuze und senkten sich sogar in die Stiefel.
Johanna rannte und ruderte, hustete und rettet sich in den Eingang des Verlagscenters. Helfende Hände fingen sie auf und zogen sie durch die Glastür in die Sicherheit des Foyers.
„Das war knapp…“ sagte eine männliche Stimme.
Lion klopfte ihr den Schnee von der Jacke. Dann öffnete er den Riegel ihrer Kapuze und mit einer streichelnden Bewegung befreite er ihr Gesicht und den kurzen Haarschopf.
Draußen, vor der Glasfront tobte der Schneesturm. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Sturm, der jetzt in Johannas Seele tobte.
Sie war geradewegs dem Mann in die Arme gestolpert, dem sie wochenlang aus dem Weg gegangen war.
Und der schälte sie jetzt aus ihrer nassen Jacke.
Sie maßen einander mit Blicken. Abschätzend, fragend.
Wortlos nahm er ihren Arm und führten sie zum Kaffeeautomaten in der hintersten Ecke der Eingangshalle. Hier setzte sie sich auf einen der orangefarbenen Plastikstühle und Lion tippte auf die Taste für den großen Cappuccino.
Er wusste, was sie trank. Er wusste überhaupt mehr von Johanna, als ihr lieb war. Schließlich kannte er ja ihr Autorenprofil.
Beide Hände um den Becher gelegt, kam sie langsam zur Ruhe. Das Getränk durchflutete sie mit Wärme und brachte ihre Sinne wieder ins Gleichgewicht.
Lion sah nachdenklich in seinen Kaffeebecher. Johanna beobachtete ihn. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass ihm die Frau, die ihm bei der Preisverleihung entwischt war, so plötzlich wieder in die Arme geweht wurde.
War er unsicher?
Wusste er nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte?
In seinem Gesicht zeichnete sich sehr genau ab, wie er des Sturmes, der auch in seinem Inneren tobte, Herr zu werden versuchte.
Johanna stand auf und trat an die Scheibe. Sie sah zu, wie die Flocken waagerecht vorbei trieben, wie sie voreinander flohen, sich dann in einer Verwirbelung umdrehten und ihrem Verfolger wieder entgegeneilten.
„Ja“, dachte sie, „so, genau so. Als sei es ein Gesetz der Natur.“

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