Schneeregen

Bild von Mark Read
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Unter den 52 Wochen eines Kalenderjahres gab es genau zwei, in denen Manfred dem Winter etwas abgewinnen konnte. Vom 23. Dezember bis Heilig Drei König dauerte die Zeit, in der er kalte Temperaturen und Schnee absolut in Ordnung fand, ja sogar im Stande war, sich über diese Phänomene zu freuen. Einfach, weil beides für ihn zu dieser Jahreszeit gehörte und weil er einige der wenigen wirklich schönen Kindheitserinnerungen mit Schneegestöber zur Weihnachtszeit verband.
Doch Manfred hatte im Laufe der Jahre oft genug erkennen müssen, wie wenig Rücksicht der Wettergott – in seiner Vorstellung ein sadistischer, sich am Leid anderer ergötzender Unsympath – auf ihn nahm.

In der Zeit um Weihnachten und nach Neujahr schneite es nur höchst selten, oft waren die Temperaturen in München um diese Zeit sogar recht passabel. Nein, üblicherweise wurde es erst nach Ende der Feiertage richtig arktisch, ging das Thermometer deutlich in den Minusbereich, kam das widerwärtige weiße Zeug plötzlich in Massen vom Himmel, so dass die Bürgersteige in München matschig und glatt wurden, die Straßen quasi unbefahrbar und der öffentliche Nahverkehr völlig aus dem Takt kam. Dieses grauenhafte, kalte Winterwetter ging dann auch keineswegs wieder nach kurzer Zeit weg, nein, der ungebetene Gast machte es sich geradezu gemütlich in der Stadt.
Manfred schien mit seiner Abneigung gegen den Schnee zu einer absoluten Minderheit zu gehören, was ihn noch mehr verbitterte als das nasskalte Wetter an sich. In den Wochen bis zum Ende des Faschings war seine Gemütslage daher meist trübe, wenn nicht gar feindselig gegenüber allem und jedem.

Seine Frau hatte schon bald nach der Hochzeit diesen kindischen Charakterzug als seinen großen Schwachpunkt identifiziert.
"Dann ziehen wir doch verdammt noch mal in ein Land mit einem milden Winter", hatte sie gedrängt. "Bewirb dich doch um einen Posten im Ausland. Gehen wir nach Spanien! Nimm dein Schicksal selbst in die Hand, anstatt immer nur zu schimpfen", hatte sie gesagt. Das hatte Manfred nur noch weiter verbittert, denn mehr noch als Schnee und Minusgrade ekelte ihn der Gedanke an, seine geliebte Heimatstadt dauerhaft zu verlassen. So gern er auch verreiste, im Sommer an den Strand fuhr oder im Schatten eines Baumes auf einer Mittelmeerinsel ein Glas Wein schlürfte – er konnte nicht sein Leben an einen Ort verlagern, an dem es sein Lieblingsbier nicht zu kaufen gab, an dem nicht die Isar vorbeirauschte oder die Menschen durch den Hofgarten flanierten. Alleine die Vorstellung, auf all das verzichten zu müssen, ängstigte ihn mehr, als ihm das Wetter zu schaffen machte.

Also nahm alles seinen Lauf. Manfred akzeptierte, dass er jedes Jahr mindestens sechs Wochen lang schlechte Laune haben würde. Nicht einmal das sich aufgrund dieser Konstellation bald abzeichnende Scheitern seiner Ehe konnte ihn von diesem Pfad abbringen. Wobei anzumerken wäre, dass seine Wetterfühligkeit nur die Spitze eines Eisbergs der zwischenmenschlichen Probleme war.
"Du bist ein unerträglicher Mensch", sagte ihm seine soeben zur Ex-Frau gewordene Gattin ins Gesicht, als sie das Scheidungsgericht verließen. Sie wirkte dabei sehr traurig, und Manfred musste kräftig schlucken, denn er wusste, dass sie Recht hatte. Ja, er konnte unerträglich sein. Doch wie sollte er das ändern?
Er war für Kompromisse immer zu haben. Doch beim besten Willen konnte er nicht gut gelaunt und lachend durch die Gegend laufen, wenn ihm ein kalter Wind kristallisiertes Eiswasser ins Gesicht peitschte und die Sicht nahm. Nein, das war grotesk. Manfred war alles andere als ein Unmensch, aber er konnte nun einmal nicht aus seiner Haut, und es bedrückte ihn sehr, dass ihn allein dieser Umstand bereits zu einem gesellschaftlichen Außenseiter zu machen schien.

Schon seit einigen Jahren hatte er nun also niemanden mehr, dem er frühmorgens sein Leid klagen konnte über das ekelhaft kalte Wetter da draußen. Auch heute nicht. Auf dem Kalender war als Datum der zweite März vermerkt. Am Vortag hatte der meteorologische Frühling begonnen, doch diese Tatsache entlockte Manfred nur ein gequältes Lächeln. Denn das Wetter in der Stadt verweigerte sich ihr wieder einmal entschieden. Blickte er aus dem Fenster seiner Wohnung in der Clemensstraße, so wartete draußen ein trübes, graues, nasses, bedrückendes Nichts auf ihn. Wolken hingen tief über den Häusern wie eine Drohung. Schneeregen fiel vom Himmel, vermengte sich mit den kläglichen Überresten des zusammengekehrten Schnees auf den Bürgersteigen, machte die Wege seifig, hinterließ eklige Pfützen voll kalten Wassers, das stets aufs Neue Wege fand, durch Manfreds Schuhsohlen zu seinen Socken vorzudringen. Missmutig verließ er seine Wohnung und stapfte durch die Straßen Schwabings.
Vorfrühling nannten die Meteorologen diese Tage vor dem kalendarischen Frühlingsbeginn. Vorfrühling, das klang in Manfreds Ohren wie blanker Hohn. Von Frühling war nichts, aber auch gar nichts zu sehen. Das, was ihn hier draußen umfing, war Winter und nichts weiter – kalt, feucht, unschön, menschenfeindlich.

Es war Samstag, er musste heute nicht in sein Büro gehen, um Akten zu sortieren und abzustempeln, um Vermerke zu schreiben, Einschätzungen abzugeben und Kaffee zu trinken. Manfred hasste Samstage, besonders in letzter Zeit. Die Einsamkeit seiner vier Wände ertrug er kaum mehr. Daher suchte er häufiger als früher Cafés und Gaststätten auf, saß dort alleine an einem Tisch und las Zeitung.
Es ging ihm nicht unbedingt um Kommunikation mit anderen Menschen. Im Grunde wollte er nur ihre Schritte hören, das Gemurmel ihrer gedämpften Konversationen, ihr Husten und Niesen, Lachen und Rufen. Wenn schon das Wetter grauenhaft und kalt war, so wollte er auf diese Weise wenigstens ein bisschen Wärme abbekommen. Natürlich gestand er sich das nicht ein. Offiziell ging er in die Cafés, um dem scheußlichen Wetter zu entfliehen.

Wenn doch der Vorfrühling seinem Namen wenigstens im Ansatz Ehre machen würde. Wenn doch wenigstens ein bisschen Sonne am Himmel zu entdecken wäre. Stattdessen peitschte der Schneeregen Manfred in das verbissene Gesicht, als er die Leopoldstraße an der Münchner Freiheit überquerte und von dort in das Straßengewirr Altschwabings abtauchte.
Mit verdrießlicher Miene erreichte er sein Stammcafé in der Haimhauser Straße, mit verdrießlicher Miene setzte er sich an einen Tisch, bestellte einen Kaffee und las mit nach unten gezogenen Mundwinkeln eine Zeitung, die selbstverständlich voll schlechter Nachrichten war. Da, plötzlich, ohne Ankündigung, sah er sie.

Fast hätte er sich an seinem Kaffee verschluckt, denn er erkannte in ihr sofort die Frau, die er vor so vielen Jahren mit jugendlicher Inbrunst begehrt hatte, und die ihm unsagbaren Schmerz zugefügt hatte. Nicht seine Ex-Gattin. In die war zwar er unzweifelhaft auch irgendwann einmal verliebt gewesen, auch wenn ihm die Gründe dafür heute nicht mehr ganz klar waren. Doch mit ihr hatte es nicht dieses Knistern gegeben, nicht diese Gefühlswallungen, die er in Silkes Gegenwart stets verspürt hatte. Die Liebe zu Silke war die echteste, hingebungsvollste gewesen, zu der Manfred in der Lage war. Wenn sie sich auch aus seiner Sicht als eine unglückliche Liebe entpuppt hatte.

Wie lange war das nun her, dreißig Jahre? Es erschien ihm unmöglich, dass die Zeit so schnell vergangen war. Sie hatten sich an der Uni kennen gelernt, im Germanistikseminar. Ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, hatten ihn ihre funkelnden Augen durchbohrt, und mit einem unwiderstehlichen Lächeln hatte sie ihn gefragt, ob sie einen Stift von ihm leihen durfte. Was er bejaht hatte. Es hatte dann nur vier Wochen voller schlafloser Nächte gebraucht, bis er endlich den Mut aufgebracht hatte, sie zu fragen, ob sie sich vorstellen könnte, eventuell, unter gewissen Umständen, falls sie nichts besseres vorhatte, beziehungsweise, falls es sich irgendwie ergeben würde, ob sie also unter dieser Voraussetzung bereit wäre, gegebenenfalls mit ihm einen Kaffee zu trinken. Was wiederum sie bejaht hatte. Im Café hatte sie ihn dann nett angelächelt, über seine Späße gelacht, ihn glauben gemacht, er hätte eine Chance bei ihr. Und ihn dann in einem Nebensatz wissen lassen, dass sie glücklich vergeben sei. An einen angehenden Anwalt.

Manfred war damals einige Wochen lang der unglücklichste Mensch der Stadt gewesen. Im Grunde wie heute im Winter, sinnierte er, Silke anstarrend.

Verrückt, wie das Leben so spielte. Jetzt stand Silke hier am Tresen in seinem Lieblingscafé und brachte Licht in diesen eigentlich zutiefst grauen Vorfrühlingstag. Sie hatte sich nicht verändert und sah, obwohl nun mit Sicherheit auch schon jenseits der fünfzig, immer noch frisch, jung und schön aus. Manfred war so erfreut, sie nach so langer Zeit wieder zu sehen, dass er das Wetter darüber kurzzeitig vergaß. Fieberhaft überlegte er, wie er es anstellen konnte, dass sie seine Anwesenheit bemerkte, ohne dass es peinlich wirkte. Aber was, wenn sie ihn nicht mehr erkannte?
Im Gegensatz zu ihr hatte er sich sehr wohl verändert. All die entbehrungsreichen Jahre voller trister, kalter und feuchter Winter, all die Wochen ohne Sonnenschein hatten tiefe Furchen in seinem Gesicht hinterlassen. Damals, an der Uni, war er ein zwar milchgesichtiger, aber kraftvoller Jüngling gewesen, voller Träume, nicht über das Wetter sinnierend. Doch nun? Er konnte nicht zulassen, dass sie ihn so sah. Was, wenn sie ihn für einen Lüstling hielt, der ihr nachstellte? Was, wenn sie die Polizei rief?

"Manfred! Das ist ja ein Ding! Erkennst du mich? Ich bin es, Silke!"
Urplötzlich stand sie vor ihm, strahlte wie ein Suchscheinwerfer in der Nacht und war atemberaubend schön.

Und Manfred antwortete. Er schaffte es trotz seiner Nervosität, ganze Sätze nach den gängigen Regeln der deutschen Grammatik zu bilden. Es gelang ihm, wie ein normaler Mensch zu ihr zu sprechen, und das war noch nicht alles. Seine ganze Körperhaltung änderte sich. Seine Wirbelsäule richtete sich auf, die Schultern schnellten in seit Jahren nicht mehr gekannte Höhen empor. Er sprühte nur so vor Elan, brachte sie mit Leichtigkeit dazu, sich an seinen Tisch zu setzen, lud sie zur Feier dieses gänzlich unerwarteten Wiedersehens zu einer Tasse Kaffee ein, erzählte von sich, streute Anekdoten aus seinem interessanten Beruf im Büro ein, grinste sie an, schäkerte und flirtete ein wenig mit ihr, brachte sie zum Lachen, lauschte ihren Erzählungen über die unglückliche Ehe mit dem Anwalt, über die Scheidung und ihren Neuanfang als alleinstehende Frau, zeigte sich mitfühlend, nahm Anteil, war ein ganz und gar liebevoller Freund und Zuhörer. Schließlich stellte er nach über einer Stunde fest, dass er immer noch in Silke verliebt war, und dass er keinen Gedanken mehr an den peitschenden Schneeregen draußen vor dem Fenster verschwendet hatte.

Sie verabschiedeten sich nicht voneinander, nachdem sie das Café verlassen hatten, sondern gingen noch ein wenig spazieren. Schließlich gab es noch so viel zu erzählen.

Draußen war der feuchte Schneeregen mittlerweile in richtigen Schnee übergegangen und fiel nicht mehr aggressiv vom Himmel hinab. Jetzt schwebte er sanft zu Boden. Manfred war es herzlich egal, was der Schnee machte, ihm machten die Temperaturen überhaupt nichts mehr aus. Es hätte auch Blitzen und Hageln können, es hätte ihn nicht interessiert.
Das Wetter, was war das schon? Etwas, das der Mensch nicht beeinflussen konnte. Ein Naturphänomen, das abhängig von bizarren Zufallsfaktoren war wie Wolkenströmungen, Luftdruck und anderem physikalischen Kram. Ein Gesprächsthema für Leute, die sonst nichts zu besprechen hatten. Das Wetter war nichtig im Vergleich zum wahren Leben. Und dieses Leben hatte Manfred soeben wieder entdeckt.

Es war schon dunkel geworden, als er mit Silke auf einer Parkbank am Kleinhesseloher See Platz nahm. Natürlich wusste sie so gut wie er, warum es sie in den Englischen Garten gezogen hatte. Sie hatten es nicht abgesprochen, sondern waren einfach hierher spaziert. Jetzt saßen sie hier und würden sich gleich küssen.
"Es ist schon verrückt, das Leben, nicht wahr?", fragte Manfred, seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Sie blickten auf die Reflektionen, die der Mond auf dem Wasser hinterließ.
"Ja", seufzte Silke. "Wenn du wüsstest, wie oft ich mich über Dinge geärgert habe, die ich nicht ändern kann. Es ist so traurig, wie viel Zeit der Mensch damit vergeudet, sich über sein Schicksal zu ärgern. Dabei hat er es selbst in der Hand."
"Das hast du sehr schön gesagt", pflichtete Manfred eifrig bei.
"Zum Beispiel habe ich mich lange Zeit darüber geärgert, dass ich dich damals an der Uni so abserviert habe. Denn letztlich habe ich mich ja damals für den Falschen entschieden. Der Richtige wärst du gewesen." Jetzt musste der Kuss kommen. Und er kam, lang und innig.
Manfred saß mit Silke noch lange auf der Parkbank, schweigend und glücklich. Es hatte zu schneien aufgehört.

"Gehen wir?", fragte Manfred.
"Ja." Sie blickte zum Himmel. "Sieh mal, wie klar der Himmel ist. Jetzt ist der Winter endgültig vorüber und der Frühling bricht an. Das spüre ich."
"Woher weißt du das so genau?"
"Na, bei meinem Nachnamen werde ich mich wohl gut mit der Jahreszeit auskennen", erwiderte Silke lachend.
"Wie meinst Du das?"
"Na, sag mal! Du weißt doch, dass ich Winter heiße."
"Oh. Stimmt. Ja, das ergibt Sinn." Manfred lächelte, als er ihr seinen Mantel um die Schulter legte und sie an der Hand aus dem Park führte.