Vor etwa zwei Jahren erschien er zum ersten Mal bei der kleinen verwitweten Frau Kurz auf dem Balkon gegenüber. Dabei nannte sie ihn mehrmals laut bei seinem Vornamen „Mischa“, und es ist zu vermuten, dass sie ihn der Nachbarschaft auf diese Weise unaufdringlich bekannt machen wollte. Mischa ist in den Siebzigern, auffallend groß, in seiner ganzen Erscheinung geprägt durch langes Alleinsein und noch relativ gut erhalten, wenn man davon absieht, dass der Oberkörper in seinem Alter gewöhnlich in Richtung Beckenpartie sinkt und man dann so aussieht, als wären die Hüften zu breit und vor allem zu hoch angesiedelt. Sein Kopf war im Verhältnis zum Körper etwas klein und nach oben hin spitz geraten, was durch seinen ungeschickten Haarschnitt, der an einen Buchhalter um 1920 erinnerte, besonders hervorgehoben wurde.
Beide richteten im Laufe der ersten Wochen Frau Kurzens große Wohnung mit viel Bohei neu ein, wobei es immer mal Geschrei und unbeherrschte Kraftausdrücke von ihrer Seite gab, weil ihr z.B. die Deckentapete durch falsche Besenhaltung wie eine nasse Tunika um Kopf und Körper hing und er vor Schreck fast mit der Trittleiter auf sie gefallen wäre.
Nachdem nun das gemeinsame Nest gebaut war, trat wohltuende Ruhe bei ihnen ein, in der sie gemeinsam und jeder für sich selbst aneinander zu quasi neuen Wesen wurden, was sich auch äußerlich bemerkbar machte und schon nach wenigen Wochen das Selbstvertrauen der beiden sichtbar hob.
Sie erschien mit einer neuen Frisur, was bei Frauen bekanntlich immer ein untrügliches Zeichen des Aufbruchs in ein neues Leben ist (aus ihren künstlichen grauweißen Altedamenlocken wurde über Nacht ein verwegener Kurzhaarstoppelschnitt), und außerdem zog sie jetzt täglich ihre Bahn mit weißer Weste, rosa Kniebundhosen, roten Strümpfen, Marken- Laufschuhen und Nordic-Walking- Stöcken aus dem gehobenen Segment.
Der Mischa wurde von ihr neu und zeitgemäß gekleidet und bekam langsam einen Haarschnitt, der den angeborenen Spitzkopf perfekt kaschierte, beide Maßnahmen ihrerseits verrieten kreatives
und erfolgreiches Herangehen an die alltäglichen Probleme, und man kann sicher sein, dass dem Mischa sein vorteilhafteres Erscheinungsbild selber auch gefiel und ihm sichtbar Souveränität und ein geschmeidigeres Wesen verlieh.
Bald war er im feuchtfröhlichen Sommernachtskreis der Familien des Vierparteienhauses eingeführt und hob sich stimmlich bei den sporadischen Lachsalven nach zwei drei Sitzungen bereits von den anderen ab. Von der kleinen Frau Kurz war jetzt oft zu hören „der Mischa sagt immer…“, und dieser Ausspruch tat ihr ebenso gut wie dem Mischa.
Nachdem wir mit der Situation nun einigermaßen vertraut sind, müssen wir einen Schnitt machen und gedanklich ein paar Wochen zurückgehen zum Beginn ihres gemeinsamen Lebens. Als der
Mischa kam, hatte er einen dunkelgrünen GOLF Kombi, ein Veteran wie er und seit Jahren vermutlich sein einziger Lebensgefährte. Den „Grünen“ ließ er nicht gern aus den Augen, jedenfalls drehte er sich beim Gang zur Haustür immer wieder zu ihm um, und er hätte ihm sicher öfter zugewinkt, wenn er sich unbeobachtet gefühlt hätte. Täglich war er mehrmals mit ihm beschäftigt, ließ seine rechte Hand über die Lackflächen gleiten und hatte oft eine Faust voll Polierwatte dabei, um mal hier und mal da ein Stäubchen zu erwischen, was nicht dahingehörte, und mindestens zweimal wöchentlich wurde es zwischen beiden intim, da wurde die Motorhaube hochgeklappt, und Mischas Kopf verschwand mitunter, um z.B. die Stände von Motorenöl, Kühlflüssigkeit und
Scheibenwaschwasser zu prüfen oder die Kabel auf Marderbisse zu kontrollieren, und jedes Mal sah Frau Kurz von oben zu, und der Mischa rief nach der Prozedur mit schräg nach oben verdrehtem Kopf stets „widder ma Schwein jehappt!“.
Umso verwunderlicher ist es jedoch, dass so ein Autofan wie der Mischa mentale und motorische Probleme beim Fahren hat, nehmen wir beispielsweise das Rückwärtsausparken. Dabei muss
Frau Kurz auf der Straße stehen, ihn rauswinken und im Notfall den spärlichen Verkehr stoppen, und da der Mischa nicht gegenlenkt, wie wir Autofahrer zu sagen pflegen, fährt er schnurgerade mit dem Heck jedes Mal fast in unseren Gartenzaun, was Frau Kurz jedoch mit Klopfen an die Heckscheibe bisher erfolgreich verhindern konnte. Dann bremst er so kräftig, dass der Grüne wackelt, schlägt im Stand das Lenkrad bis zum Anschlag nach links ein, gibt Vollgas und fährt ein Stückchen los, bis er ums Haar am gegenüberliegenden Zaun landet, und so geht es mit ruckartigem Bremsen, Abwürgen, Neustart und dröhnendem Vollgas hin und her, bis Frau Kurz endlich zusteigen kann und beide im Schneckentempo abfahren. Man kann sich vorstellen, dass der Mischa bei jedem Ausparken an seine Leistungsgrenzen kommt und schon verschwitzt ist, bevor es losgeht.
Als der Grüne auf Mischas Parkplatz einige Tage fehlte, dachten wir zunächst an einen längeren Werkstattaufenthalt, aber nein, sie haben jetzt einen Neuen, einen sandfarbenen „VW GOLF plus Sportsvan Comfortline Hochdach“ mit allem Pipapoo.
Mit dem Neuen kann alles ja nur besser werden, dachten Frau Kurz und ihr Mischa sicher, bei der Technik heutzutage, aber falsch gedacht, jetzt haben beide nämlich keine ruhige Minute mehr. Es ist nicht nur das Ausparken, was sich natürlich überhaupt nicht geändert hat, es sind die Sorgen, die sie sich nun machen um Schrammen, Vandalismus, Diebstahl, um Wertverlust durch Regen, Wind oder Staub, es gibt da so viele Möglichkeiten, und der Neue war sicher nicht billig, also was tun? Und der Mischa tat was, denn er hatte sich Folgendes überlegt: Wenn er mit der linken Seite ganz dicht an die über zwei Meter hohe und einskommazwei Meter breite Ligusterhecke ranfährt, dann kann der Dieb ja nicht einsteigen, und der Mischa muss dann eben zur rechten Seite aus- und einsteigen. Das ist bei seiner Länge und in seinem Alter zwar eine Herausforderung, aber was tut man nicht alles im Dienst einer guten Sache. Ich fragte mich gleich, ob er da nicht etwas vergessen
hätte, etwas Wichtiges. Der Dieb ist mit einiger Sicherheit nicht so groß und alt wie er und könnte doch selber von der rechten Seite einsteigen, aber ich sagte natürlich nichts, denn ich wollte mich nicht einmischen, und der Mischa weiß außerdem gar nichts von mir.
Offenbar hatte er selber bemerkt, dass die Maßnahme noch nicht genügend durchdacht war, denn ein paar Tage nach Einführung der neuen Parktechnik war er mehrere Tage intensiv an der Hecke beschäftigt, wobei Frau Kurz natürlich die ganze Zeit über dicht neben ihm stand und beide dauernd mit schwarzen Foliensäcken hin- und herliefen und viel zu tuscheln hatten. Darauf folgte eine mehrstündige rätselhafte Aktion unten an der rechten Vordertür. Inzwischen sind die raffinierten Verbesserungsmaßnahmen längst tägliche Praxis, und wir wissen jetzt:
1. Die Hecke wurde links an der Fahrertür in einem Bogen weit nach innen und bis zur Dachhöhe des Neuen ausgeschnitten, da-mit er sich nun mit etwas Mühe von der Hauswand kommend in ihren Ausschnitt zwängen und auf diese Weise sogar wieder von links einsteigen konnte, ohne dass diese Möglichkeit von der Straße, also von der Räuberseite aus, zu erkennen ist.
2. Die rechte Vordertür wurde zusätzlich folgendermaßen gesichert: An der Türunterkante hatte er innen eine Schlaufe eingeklebt, in die eine Angelschnur eingehakt werden konnte. Die Schnur lief über eine kleine Rolle zur Hauswand, von dort über eine weitere nach oben zum Balkon, von wo aus sie ins Wohnzimmer umgelenkt wurde und dort im Falle einer Bewegung einen Klingelton auslösen würde. Bisher scheint jedoch nichts Derartiges stattgefunden zu haben, denn der Mischa macht nach wie vor seine Morgenkontrolle mit dem Ergebnis:„widder ma Schwein jehappt!“ Die Motorhaube wird übrigens nur noch einmal wöchentlich geöffnet, und den Kopf steckt er nicht mehr rein, weil das gar nicht mehr geht. Der Mischa hat jetzt alles im Griff, im Laufe des frühen
Vormittags läuft alles normal: Aushaken der Angelschnur, Einsteigen über die Gebüschdelle, Rückwärtsausparken in der bekannten Weise und Zusteigen von Frau Kurz, bis sie nach einiger Zeit am Ende der Straße immer kleiner geworden sind, rechts abbiegen und nun für etwa zwei Stunden unseren Blicken entzogen bleiben.
Der Mischa
von Hartmut Müller
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