Der Himmel war so grau, dass man ihm Blau nicht mehr zutraute. Ich fror und war froh, als der Bus endlich kam. Vor mir schoben Schulränzen aneinander vorbei, stießen und drückten sich gegenseitig. Stimmen schwirrten laut im Raum. Später wurden Hausaufgaben herausgezogen und abgeschrieben, im letzten Moment wieder eingesteckt. Erleichtertes Lächeln machte sich auf Kindergesichtern breit. Niemand würde etwas merken. Diesmal kein Strich hinter dem eigenen Namen, keine Strafarbeit, kein Nachsitzen. Zeit, sich zu entspannen.
Natürlich würde man mich finden. Natürlich, die Nummernschilder verrieten ja alles. Wenn der Krankenwagen den Jungen geholt hätte, wenn seine Blutungen gestillt wären, sein Bein verbunden und sein Kopf, wenn die Polizei genügend Ruhe haben würde, weil der Rettungswagen auf dem Weg zum Krankenhaus wäre. Natürlich würde man dann den Halter des Wagens ganz einfach feststellen können.
Also musste ich weiter. Der Bus hatte an der Realschule gehalten. An den Gymnasien. Er war leer geworden, die Schulränzen waren auf ihrem Weg. Er hielt am Busbahnhof mit mir als einzigem Gast.
Der Busfahrer sah sich nach mir um. Ich hatte keine Wahl. Eine SMS zur Erklärung musste genügen. Eine Fahrkarte, um in einen Zug umzusteigen. Später in ein Flugzeug. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich kann mich dir nicht mehr antun. Mir selbst auch nicht. Was würde es nützen, mich einsperren zu lassen? Ich muss gehen, um mich auszutauschen, eigentlich bin ich schon gegangen. Mich gibt es nicht mehr und schon gibt es mich wieder neu.
Schon lange hat sich etwas aus mir herausgeschlichen. Das Essentielle leider, das mich mein Leben leben ließ, ohne etwas anderes als die üblichen kleinen Freuden und Ärgernisse zu fühlen. Auf einmal war es vergangen, verschwunden aus meinem Empfinden. Auf einmal war alles lächerlich. Auf einmal konnte ich mich nicht mehr wohlfühlen. Auf einmal störte ich mich selbst und störten mich alle, denen ich täglich begegnete. Das hat mich sehr müde gemacht. Das hat mich sehr abgelenkt. Das hat mich unaufmerksam sein lassen. Denn ich dachte, als ich hinter dem Lenkrad auf dem Weg war, den ich schon so oft gefahren war, auf einmal über den Weg nach. Wo lagen die Kurven, wo die Steigungen? Die ich schon so oft befahren hatte? Das hat mich ganz ungewohnt abgelenkt. So ist es gekommen. Es kam nicht überraschend. Das sollst du wissen, schrieb ich. Es hatte also vielleicht sogar alles seinen Sinn. Jedenfalls verlasse ich jetzt mein Leben.
Und als das Flugzeug abhob, war mir, als würde unten einer stehen, der mir sehr ähnlich sah. Dem ich ein letztes Mal zuwinken musste. Er hatte einen Fehler gemacht, ich konnte ihn verstehen. Aber ich wollte nicht mit ihm tauschen.
Abschied
von Tanja Grün
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Veröffentlicht / Quelle:
Tanja Grün, Wind, Pangai Misi Verlag ISBN 978-3-989-10-6
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Interne Verweise
- Autorin/Autor: Tanja Grün
- Prosa von Tanja Grün
- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Historisch