Der Weihnachtsabend (auch eine Weihnachtsgeschichte) - Page 13

Bild von Charles Dickens
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Zittern. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde vergingen, aber es kam nichts. Die ganze Zeit über lag er auf seinem Bett recht in der Mitte eines Stromes röthlichen Lichtes, welches sich über ihn ausgoß, als die Glocke die Stunde verkündigte; und welches, weil es nur Licht war, viel beunruhigender als ein Dutzend Geister war, da es ihm unmöglich war zu errathen, was es bedeute oder was es wolle. Ja, er fürchtete zuweilen, er möchte in diesem Augenblick ein merkwürdiger Fall von Selbstentzündung sein, ohne den Trost zu haben, es zu wissen. Endlich jedoch fing er an zu denken, daß die Quelle dieses geisterhaften Lichtes wohl in dem anliegenden Zimmer sein möge, aus dem es bei näherer Betrachtung zu strömen schien. Wie dieser Gedanke die Herrschaft über seine Seele bekommen hatte, stand er leise auf und schlürfte in den Pantoffeln nach der Thür.

In demselben Augenblick, wo sich Scrooge’s Hand auf [62] den Drücker legte, rief ihn eine fremde Stimme bei Namen und hieß ihn eintreten. Er gehorchte.

Es war sein eigenes Zimmer. Daran ließ sich nicht zweifeln. Aber eine wunderbare Umwandlung war mit ihm vorgegangen. Wände und Decke waren ganz mit grünen Zweigen bedeckt, daß es ganz aussah wie eine Laube, in der überall glänzende Beeren schimmerten. Die glänzenden, strammen Blätter der Stechpalme, der Mistel und des Epheu’s warfen das Licht zurück und erschienen wie eben so viel kleine Spiegel. Eine so gewaltige Flamme loderte die Esse hinauf, wie dieses Spottbild eines Kamines in Scrooge’s oder Marley’s Zeit seit vielen, vielen Wintern nicht gekannt hatte. Auf dem Fußboden waren zu einer Art von Thron Truthähne, Gänse, Wildpret, große Braten, Spanferkel, lange Reihen von Würsten, Pasteten, Plumpuddings, Austerfäßchen, glühende Kastanien, rothbäckige Aepfel, saftige Orangen, appetitliche Birnen, ungeheure Stollen und siedende Punschbowlen aufgehäuft, welche das Zimmer mit köstlichem Geruch erfüllten. Auf diesem Thron saß behaglich und mit fröhlichem Angesicht ein Riese, gar herrlich anzuschauen. In der Hand trug er eine brennende Fackel, fast wie ein Füllhorn gestaltet, und hielt sie hoch in die Höhe, um Scrooge damit zu beleuchten, wie er in das Zimmer guckte.

„Nur herein,“ rief der Geist. „Nur herein, und lerne mich besser kennen.“

[63] Scrooge trat schüchtern ein und senkte das Haupt vor dem Geiste. Er war nicht mehr der hartfühlende, nichtsscheuende Scrooge wie früher, und obgleich des Geistes Augen hell und mild glänzten, wünschte er ihnen doch nicht zu begegnen.

„Ich bin der Geist der heurigen Weihnacht,“ sagte die Gestalt. „Sieh mich an.“

Scrooge that es mit ehrfurchtsvollem Blick. Der Geist war in ein einfaches, dunkelgrünes Gewand, mit weißem Pelz verbrämt, gekleidet. Die breite Brust war entblößt, als verschmähe sie, sich zu verstecken. Auch die Füße waren bloß und schauten unter den weiten Falten des Gewandes hervor; und das Haupt hatte keine andere Bedeckung, als einen Stechpalmenkranz, in dem hie und da Eiszapfen glänzten. Seine dunkelbraunen Locken wallten fessellos auf die Schultern. Sein munteres Gesicht, sein glänzendes Auge, seine fröhliche Stimme, sein ungezwungenes Benehmen, Alles sprach von Offenheit und heiterm Sinn. Um den Leib trug er eine alte Degenscheide gegürtet; aber sie war von Rost zerfressen und kein Schwert stak darin.

„Du hast nie meines Gleichen vorher gesehen,“ rief der Geist.

„Niemals,“ entgegnete Scrooge.

„Hast Dich nie mit den jüngeren Gliedern meiner Familie abgegeben; ich meine (denn ich bin sehr jung) meine ältern Brüder, welche in den letzten Jahren geboren worden sind,“ fuhr das Phantom fort.

[64] „Ich glaube nicht,“ sagte Scrooge. „Es thut mir leid, es nicht gethan zu haben. Hast Du viele Brüder gehabt, Geist?“

„Mehr als achtzehnhundert,“ sagte dieser.

„Eine schrecklich große Familie, wer für sie zu sorgen hat,“ murmelte Scrooge.

Der Geist der heurigen Weihnacht stand auf.

„Geist,“ sagte Scrooge demüthig, „führe mich wohin Du willst. Gestern Nacht wurde ich durch Zwang hinausgeführt und mir wurde eine Lehre gegeben, die jetzt im Wirken ist. Heute bin ich bereit zu folgen, und wenn Du mir etwas zu lehren hast, will ich hören.“

„Berühre mein Gewand.“

Scrooge that, wie ihm gesagt worden und hielt es fest.

Stechpalmen, Misteln, rothe Beeren, Epheu, Truthähne, Gänse, Braten, Spanferkel, Würste, Austern, Pasteten, Puddings, Früchte und Punsch, Alles verschwand augenblicklich. Auch das Zimmer verschwand, das Feuer, der röthliche Schimmer, die nächtliche Stunde, und sie standen in den Straßen der Stadt, am Morgen des Weihnachtstages, wo die Leute, denn es war sehr kalt, eine rauhe, aber muntere und nicht unangenehme Musik machten, wie sie den Schnee von dem Straßenpflaster und den Dächern der Häuser zusammenscharrten. Und daneben standen die Kinder und freuten sich und frohlockten, wie die Schneelawinen von den Dächern herunterstürzten und in künstliche Schneestürme zerstiebten.

[65] Die Häuser erschienen schwarz und die Fenster noch schwärzer, verglichen mit der glatten, weißen Schneedecke auf den Dächern und dem schmutzigern Schnee auf den Straßen. In den letztern war er von den schweren Rädern der Wagen und Karren in tiefe Furchen aufgepflügt; Furchen, die sich hundert und aberhundertmal kreuzten, wo eine Nebenstraße ausging, und in dem dicken, gelben Schmutz und halberstarrten Wasser labyrinthische Kanäle bildeten. Der Himmel war trübe und selbst die kürzesten Straßen schienen sich in einen dicken Nebel zu verlieren, dessen schwerere Theile in einem rußigen Regen niederfielen, als wenn alle Essen von England sich auf einmal entzündet hätten und jetzt nach Herzenslust brennten. Es war nichts Heiteres in der ganzen Umgebung und doch lag etwas in der Luft, was die klarste Sommerluft und die hellste Sommersonne nicht hätten verbreiten können.

Denn die Leute, welche den Schnee von den Dächern schaufelten, waren lustig und voll muthwilliger Laune. Sie riefen sich einander zu von den Dächern und wechselten dann und wann einen Schneeball – ein gutmüthigerer Pfeil, als manches Wort – und lachten herzlich, wenn er traf und nicht weniger herzlich, wenn sie fehlschossen. Die Läden der Geflügelhändler waren noch halb offen und die der Fruchthändler strahlten in heller Freude. Da sah man große, runde, dickbäuchige Körbe voll Kastanien, gleich den Westen lustiger, alter Herren, an den Thüren lehnend, oder im apoplektischen Ueberfluß auf die Straße rollend. Da sah [66] man braune, dickbäuchige, spanische Zwiebeln, in ihrer Fettheit spanischen Mönchen gleichend und muthwillig den Mädchen winkend, welche vorüber gingen und verschämt nach dem Mistelzweige schielten. Da sah man Birnen und Aepfel

A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas (wörtlich Ein Weihnachtslied in Prosa, oder Eine Geistergeschichte zum Christfest, deutsch meist Eine Weihnachtsgeschichte) ist eine der bekanntesten Erzählungen von Charles Dickens. Sie wurde im Dezember 1843 mit Illustrationen von John Leech erstmals veröffentlicht.

Veröffentlicht / Quelle: 
Der Weihnachtsabend. J. J. Weber, 1844

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