„Halt mal, Liebling, was ist denn das?“
Lucas hielt die Hand seiner Frau fest, bevor sie mit einem Mausklick das Foto vom Bildschirm verschwinden lassen konnte.
„Wo und wann hast du das aufgenommen?“
„Heute Nachmittag im Stadtpark, während Du die Rosen beschnüffelt hast. Was ist denn damit?“
Beide starrten auf das Foto. Es zeigte einen knallroten High Heel, den jemand auf einem Seerosenblatt platziert hatte. Es war bestimmt nicht einfach gewesen, den Schuh mit dem extrem hohen Absatz auf dem schwankenden Blatt ins Gleichgewicht zu bringen.
Dieser skurrilen Szene hatte Erika nicht widerstehen können und sie mehrfach abgelichtet.
„Das ist Kunst, mein Schatz. Der Schuh war nagelneu. Da gab es keine Leiche.“
Aber der Spürhund in Lucas war geweckt. Er vergrößerte das Foto und besah sich jeden Quadratzentimeter. Erika wollte gerade zu einem Vortrag über die jungen Künstler im Stadtpark ansetzen …
„Da hast du’s!“
Lucas wies aufgeregt mit dem Zeigefinger auf die dunkle Wasseroberfläche. Ein geübtes Auge konnte dort den Umriss einer Hand ausmachen. Er stellte den Bildkontrast höher und die Hand zeichnete sich deutlich ab. Zeige- und Mittelfinger schienen von unten her die Wasseroberfläche durchstoßen zu wollen. Ein heller Schemen in der Tiefe – vielleicht ein Gesicht.
Während Kommissar Lucas Lukasz zum Smartphon griff, um seinen Assistenten und den Pathologen aus ihrer Sonntagsruhe zu reißen, kontrollierte Erika bereits ihre Kameras und ordnete den Inhalt der Fototasche. Die sonst so toughe Tatortfotografin war blass und angespannt. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Gesicht des jungen Mädchens, das Spaziergänger in der vergangenen Woche im Rathhausteich gefunden hatten. Die vor Entsetzen geweiteten Augen, den rot geschminkten Mund, aufgerissen zu einem stummen Schrei.
Kommissar Lucas Lukasz und sein Team trafen sich vor dem Eingang des Stadtparks. Es dämmerte bereits und Lucas war es nicht gelungen, die Stadtverwaltung zu mobilisieren. So standen sie nun vor dem verschlossenen Eisentor. Der blonde Nils, Kriminalassistent und Lukas’ wichtigster Mann im Team, murmelte etwas, schnappte sich Erikas Fototasche und begann, links an der Rhododendronhecke entlang zu gehen. Nach ca. zweihundert Metern blieb er vor einem Durchschlupf stehen.
„War zu meiner Kindheit schon da.“
Er bückte sich und verschwand in der Hecke. Die Anderen folgten ihm.
Der Anblick war grotesk. Die Frau hatte den Kopf in den Nacken geworfen und streckte die Arme Hilfe suchend empor. Sie stand aufrecht in der Wassertreppe, die vom Seerosenteich in den Stadtparksee plätscherte.
Erika schnappte nach Luft.
„Sie war doch heute Nachmittag noch nicht da.“
„Nein,“
Lucas strich ihr beruhigend über den Rücken,
„da lag sie noch unter den Seerosen.“
Ein Windstoß brachte Bewegung in den Körper die Frau. Sie drehte sich nach rechts, bewegte die Arme und der Kopf fiel noch ein Stück weiter in den Nacken – sie wand sich in purer Verzweiflung.
Erika lief ein Schauer über den Rücken. Selbst Nils, der hart im Nehmen war, zuckte zusammen.
„Wir müssen sie da runter holen.“
Der pragmatische denkende Pathologe setze seine Tasche ab und begann, eine Plane auszubreiten. Erika machte Kamera und Blitzlicht bereit, nahm das Stativ und begann mit zitternden Knien auf die Frau in der Wassertreppe zuzugehen.
Ein überschlanker Körper, makellose Haut und eine kleine feste Brust. Das Kleid war nur noch ein Fetzen. Rot, wie der Schuh vom Nachmittag. Erika hob die Kamera und auf dem Display sah etwas, das in der Abenddämmerung mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Schmale Linien an den Schultern, dort, wo die Arme ansetzten, und über dem linken Oberschenkel. Wie die Gelenkansätze einer Puppe. Der Kopf war gewaltsam nach hinten gedrückt worden und der Hals aufgerissen. Geborstener Kunststoff mit roter Farbe beschmiert. Wie ein schreiender Mund.
Um nicht ebenfalls zu schreien biss sich Erika hart auf die Unterlippe. Dann kletterte sie auf den Steinen neben der Wassertreppe nach oben. Sie wollte in das Gesicht der Ermordeten zu sehen.
Ein gebrochener Blick aus blauen Glasaugen suchte den ihren. Erika hielt ihm stand, versuchte Trost zu übermitteln und schaffte es doch nicht. Der Anblick des geschundenen Körpers erschütterte sie bis ins Mark. Wer war fähig einer wehrlosen Schaufensterpuppe so etwas anzutun? Was geschah als Nächstes? Würde sich der Täter noch einmal mit einer Puppe begnügen?
„Es ist Kunst.“ Schien die Tote zu flüstern.
„Nein“, sagte Erika hart, „es ist Mord!“
Sie schraubte die Kamera auf das Stativ und begann mit ihrer Arbeit.