Herr Y. ist ein schwarzgrau-melierter Lockenkopf um die sechzig, ein spartanisch wirkendes mageres Männchen mit Brille, verhärmt, weltfremd, geizig, zäh und mit nach innen dösendem Blick. Er bemerkt von seiner Umwelt nichts, absolut gar nichts, aber er ist nicht unfreundlich, sondern Mathematiker und als solcher ein ausgewiesener Experte für Nullstellensuche und die Formulierung praktikabler Abbruchkriterien. Sein Schreibtisch ist zwar nicht staubfrei, aber stets leer, er hat alles im Kopf. In seinem Schrank sieht es ähnlich aus, die vielen Regale links: leer, und rechts? da hängt am Tag sein Anorak und nachts sein blauer verwaschener Kittel, beide werden morgens und abends ausgetauscht, und er ist der einzige, der diese unnötige Verkleidung praktiziert, denn er sitzt ja nur auf seinem Stuhl, keinem sogenannten Schreibtischsessel, sondern einer Art Küchenstuhl, „eine Reminiszenz an die Heimat, 45 mitgenommen aus den Sudeten“. Er arbeitet in dem Riesenbürohochhaus nun schon zwanzig Jahre und war nach eigener Aussage noch nie in der Kantine, aber das stimmt nicht: einmal war er da, als seine Frau verreist war und er deshalb kein Frühstücksbrot mit hatte, da hat er sich ein Brötchen gekauft und eine Viertelliterflasche Milch, aber nicht, ohne vorher Pfandflaschen aus Abfalleimern zu fischen, die er in Zahlung gab und so noch etwas herausbekam. Das überschüssige Geld hat er natürlich nicht in sein Portemonnaie gelegt, denn das wäre seiner Frau mit Sicherheit aufgefallen. Und natürlich hat das jemand beobachtet und herumerzählt, und das wiederum blieb selbst ihm nicht verborgen und war ihm peinlich, soviel soziales Gefühl hatte er, und deshalb hatte er es einfach im Kopf gelöscht, bei einem Programmierer geht das.
Seine Frau, vermutlich die einzige Person, mit der er sich duzt, ist zwar auch klein und hager, verhärmt und streng, sparsam und geizig, spartanisch und sehnig wie er, aber in wesentlichen Zügen das personifizierte Gegenteil, eine stets aktive und durchsetzungsstarke militante BioÖko-Fanatikerin mit unbeugsamem Willen.
Wenn sie zusammen unterwegs sind, hält sie ihn immer an der linken Hand, sodass er ihr nicht abhandenkommen kann, sie war und ist Hausfrau ohne eigenes Einkommen, und er ist schon deshalb besonders wertvoll für sie. So tapert, tappt und stolpert er im Sauseschritt hinter ihr her, beiden ist es nicht peinlich, sie sind es gewöhnt, sie sehen nur sich und halten zusammen gegen eine chaotische und verschwenderische Welt. Ihm ist es egal, wohin so ein Trip geht, ob in den Supermarkt oder durch die Heide. Ein Auto haben sie nicht, dazu fehlt das Geld, und keiner von beiden könnte oder wollte es fahren. Er hat keine eigenen Vorstellungen, was ihre gemeinsamen Aktionen betrifft, denn er ist auf der Welt, um acht bis neun Stunden täglich Algorithmen von anderen zu programmieren. Wozu die Programme benutzt werden, interessiert ihn nicht, selbst dann nicht, wenn es ihm jemand erklären wollte.
Als er achtzehn war, ist er leichtsinnigerweise durch Überredung und Versprechungen in „die Partei“ eingetreten, um sie ein Jahr später wieder zu verlassen. Dabei half ihm vermutlich seine Weltfremdheit, die die Abschätzung der Folgen unmöglich machte, denn den unglaublichen Mut für solch einen Schritt hatte er sicher nicht, aber was weiß man schon „sicher“.
Im Allgemeinen ist er friedlich, aber wenn jemand versucht, ihn aus seinem Trott zu wecken, dann kann er losgehen wie ein Widder, dem er übrigens ähnlich sieht, dann heißt es: Kopf runter, Hörner nach vorn und: Sprung, dass es kracht.
Y. liebt drei Dinge, wie man es Männern oft nachsagt: 1. Madrigale von Ockeghem, 2. ein altes Ölgemälde aus seinem sudetendeutschen Heimatdorf und 3. Huflattich.
Wenn es im zeitigen Frühling losgeht mit den gelben Blüten an den blattlosen Stängeln, erscheint er in der Mittagspause unten im Gelände und lässt nichts aus, jeden Tag nimmt er eine große Tüte mit nach Hause, wo seine Frau die Beute trocknet, um sie das ganze Jahr über als kostenlosen Tee zu servieren. Dass er dabei sozusagen verbrannte Erde hinterlässt, glaubt er nicht. Warum er die Huflattichblüten pflückt, weiß er auch nicht, sie sollen gut sein gegen Lungenleiden. Hat er ein Lungenleiden? Nein. Er trinkt nur Huflattichtee und Leitungswasser, kein Bier, keinen Wein, keinen Kaffee, keinen Saft, keine Cola, alles ungesund!
Kürzlich, nach zwanzig Jahren, sah ich das Zwiegespann in der beschriebenen Weise durch einen Großmarkt sausen, sie mit Rucksack und er schräg links hinter ihr, sie sind jetzt um die achtzig und praktisch unverändert, „die ewigen Ypsilons“.
Die ewigen Ypsilons
von Hartmut Müller
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