Alptraum in Dessertville – 1.Teil

Bild zeigt Alf Glocker
von Alf Glocker

Heiß brütet die nachmittägliche Sonne auf der Landstraße von El Paso nach Tulerosa. Fast scheint es, als habe die Natur beschlossen, sich erst einmal von der Mittagshitze zu erholen, denn es ist kein Laut zu hören. Kein Laut, außer dem leisen Rattern eines alten Buick, Baujahr 1955, der sich aus der flimmernden Luft in der Ferne schält. Hinter der dunklen Sonnenbrille des Fahrers verbergen sich träumerische blaue Augen, die wie hypnotisch dem Lauf der Landstraße folgen, jedoch tatsächlich in Erlebnisbildern des zu Ende gehenden Urlaubs schwelgen. Es sind die geschulten Augen des Berufsfliegers Paul Mitchell, der sich mit seiner Verlobten Julia und deren Hund Adam auf der Rückfahrt von einer Rundreise durch Mexiko nach seiner Heimatstadt Kansas City befindet.

Von einem längeren Schlummer soeben erwacht, räkelt sich die schöne Blonde auf dem Beifahrersitz genüsslich und stöhnt zufrieden: „Ach Darling, unsere Reise war doch wundervoll – weißt du, ich werde dich vermissen, wenn wir wieder zuhause sind; und wenn ich ganz ehrlich bin, dann wünschte ich mir, es könnte immer so sein, wir beide ...“

Die letzten Worte Julias scheinen Pauls Ohr nicht mehr erreicht zu haben, denn wie immer, wenn das Heiratsthema berührt wird, beginnt der gutaussehende Paul einen Schwank aus seiner Jugend zu erzählen: „Weißt du, ich hatte da mal einen Freund namens Pinky ...“ Julias Gesicht verliert zusehends seinen romantischen Glanz. Etwas empört greift sie zu einer Zigarette, zündet sie an und sagt halblaut: „Du verdammter Schuft, wann kannst du endlich ernst über die Sache reden?“

Kurz darauf brechen beide in schallendes Gelächter aus und der alte Buick zeichnet ein paar Schlangenlinien auf den Asphalt. Selbst Adam, der Neufundländer, fühlt sich zum Mitbellen aufgefordert und springt übermütig vom Rücksitz nach vorne. In der Sicht nun vollkommen behindert bleibt Paul keine andere Wahl als den Wagen abzubremsen. Sicherheitshalber lenkt er ihn noch einige Meter von der Landstraße in den Wüstensand. Die Türen öffnen sich und das lustige Gespann stürzt ins Freie, um die müde gewordenen Glieder neu zu beleben. Paul beginnt sofort mit improvisierten Gymnastikübungen, während Julia sich gedankenvoll nach einem Platz zum Picknicken umsieht.

„Tu mir einen Gefallen, Honey, und breite die Decke nicht dort neben den Schlangen aus."
Mit einem Aufschrei weicht Julia entsetzt zurück, Paul hatte jedoch nur Spaß gemacht.

Erwartungsgemäß findet sich kurze Zeit später auf der Picknickdecke der gesamte Reiseproviant – der nicht unerheblich ist – wieder. Selbst Adam wird reichlich bedacht. Ungeduldig werfen sich die drei auf die vorbereiteten Leckerbissen und gehen gierig ins Schlemmen über, bis sie sich, nach drei Stunden, erschöpft einfach nach hinten fallen lassen. Den Blick nach oben, in den langsam dunkelnden Abendhimmel gerichtet, greift Julia nach Pauls Hand, erwischt jedoch Adams zottigen Schwanz und rülpst dabei unabsichtlich vor Überraschung.

Bleich und fett steht der Mond am Horizont. Noch hebt er sich kaum vom türkisblauen Licht des Himmelsgewölbes ab, an dem kein Stern zu sehen ist. Adam sieht sich besorgt um. Eine Ahnung hat ihn beschlichen. Und etwas mühsam macht er sich mit seinem vollen Bauch auf den Weg. Jetzt hat Julia die Hand ihres Liebsten gefunden. Paul, der gerade am Einschlafen war, grunzt sinnlich, als seine Freundin beginnt, ihn mit dem zärtlichen Streicheln ihrer schlanken Finger zu ermuntern.

In diesem Augenblick zieht eine prächtige Sternschnuppe über den westlichen Horizont. Paul ist nicht mehr richtig wach und deshalb entgeht ihm das Schauspiel. Aber Julia hat zufällig in diese Richtung gesehen. Die ungewöhnliche Himmelserscheinung hat genau ihr Gesichtsfeld passiert. „Was könnte diese Nacht noch schöner einleiten als das?“, denkt sie. Und zu Paul gewandt sagt sie sanft: „Du darfst dir etwas wünschen, mein Schatz, ich habe gerade einen Wink des Himmels bekommen."

Paul lächelt. „Ich habe alles, was ich brauche“, meint er zufrieden, denn er weiß genau, was jetzt kommt.

Zuerst ist es nur ein wohlgeformter, weiblicher Mund, der sich dem seinen nähert. Wenig später spürt er eine prickelnde, feuchte Energie auf seiner Zunge. Julia küsst ihn lange und leidenschaftlich. Eine Liebeserklärung könnte nicht besser aussehen.

Während sich die beiden nun in der Einsamkeit, im Schutz des alten Buick, entkleiden und sich heftig zu umarmen beginnen, während sich die ersten Seufzer und hingebungsvolle Stöhnlaute von der Picknickdecke her in der Luft verbreiten, schaut einer wenig begeistert dem Treiben zu. Etwa 20 Meter entfernt sitzt traurig Adam. Erfahrungsgemäß kann das, was nun kommt, länger dauern.
Inzwischen senkt sich eine tiefblaue Dunkelheit über die romantische Szene und verleiht ihr zusätzlich den Reiz eines vielversprechenden Geheimnisses.

Erst gegen 0 Uhr sind die Kräfte der beiden jungen Leute erschöpft. Hand in Hand liegen sie auf dem Rücken und schauen selig – in unterschiedlichen Zukunftsträumen geborgen – nach oben in das sternenübersäte Gewölbe der Nacht. Immer wieder schwebt ein rotglühender Gegenstand zwischen den weißleuchtenden stellaren Objekten hindurch, um sich scheinbar in der Atmosphäre aufzulösen. Julia identifiziert alle diese rotglühenden Projektile eindeutig als Schnuppen und sie bedankt sich fast bei ihrem Schicksal für das Glück, nach solch lasziven Stunden, noch einen Meteoritenschauer miterleben zu dürfen.

Gegen ½ 2 löscht Paul die antike Karbitcampinglampe. Seine Geliebte wälzt sich bereits in ihren Träumen, die fast regelmäßig unruhig sind, an die sie sich aber nur selten erinnern kann. Dann schlummert auch er ein. Sein letzter Gedanke, bevor ihn Morpheus in sein Reich entführt, gilt noch Adam, den er entweder zuletzt nirgends mehr entdecken konnte, weil er wahrscheinlich streunt – oder hatte sich das gute Tier die ganze Zeit nur aus Rücksicht in einigem Abstand zu ihnen aufgehalten? Noch im Zustand zwischen Wachen und Schlafen hört Paul Adam weit entfernt bellen, dann nimmt ein irreales Bild des glitzernden Sternenhimmels die ganze Aufmerksamkeit seines Traumbewusstseins ein.

Am nächsten Morgen wird Paul von einer inneren Unruhe geweckt. Noch weiß er nicht, was dieses Gefühl ausgelöst haben könnte, aber er sieht sich misstrauisch um. Tiefhängende Regenwolken ziehen über die Wüste hinweg – ein sicherlich ungewohntes Schauspiel. Viel ungewöhnlicher noch aber kommt ihm ihre phänomenale Orangefärbung vor, die ihn an ein intensives Morgenrot erinnert.

„Ist das nicht wunderschön?“, meint Julia, die seit einer Stunde schon lustlos in ihrem Reiseschmöker – einem trivialen Frauenroman – blättert und jetzt bemerkt hat, daß ihr Begleiter aufgewacht ist. „Würdest du übrigens mal nach Adam sehen, ich glaube, der ist eingeschnappt." Aber ihre Vermutung erweist sich zunächst als unbegründet. Adam kommt ganz gemächlich angetrottet. In ca. 20 m Abstand legt er sich nieder, ohne jedoch die beiden, wie sonst, wenn er ein schlechtes Gewissen hat, überschwänglich begrüßt zu haben.

Er scheint auf irgendetwas herumzukauen. Hat er ein kleines Tier, eine Wüstenspringmaus oder Ähnliches, erlegt, die er nun nicht sofort fressen, sondern noch eine Weile mit ihrem Kadaver spielen will? „Pfui Adam“, ruft Julia, Schlimmstes befürchtend, „was hast du nur wieder angestellt?“ Sie kann es einfach nicht leiden, wenn bei Adam der Naturtrieb durchbricht. „Paul, geh hin und rede du mit ihm! Vielleicht hört er auf dich. Angeblich lassen sich Tiere ja durch eine tiefe männliche Stimme leichter beeindrucken als durch eine hohe weibliche."

Das sieht, glaube ich, nicht wie eine Jagdbeute aus“, meint Paul, „jedenfalls nicht wie etwas Lebendiges, bzw. Totes." Ein paar schnelle Schritte später hat er sich bis auf 3 m dem Hund genähert. Weiter traut er sich aber nicht mehr heran, denn Adam hat gefährlich zu knurren begonnen.

Als schließlich weder gutes Zureden noch Anbrüllen hilft, droht Paul zu resignieren. „Lass ihm das Ding, was immer es ist, es bedeutet ihm einfach zu viel." Da ertönt direkt hinter ihm eine schrille, sich hysterisch überschlagende Stimme. Julia ist wütend aufgesprungen. „Gib sofort das blöde Zeug her, du dämlicher Köter, bevor du es noch verschluckst. Ich habe keine Lust dich operieren zu lassen, verdammt noch mal!“

Nicht nur Paul ist zu Tode erschrocken, auch Adam fährt förmlich in sich zusammen, wobei er einen unachtsamen Augenblick lang sein Maul öffnet, um Luft zu holen. Dabei lässt er etwas auf den Boden fallen. Und ohne sich weiter um sein Spielzeug zu kümmern, rennt er panikartig davon.

Paul und Julia staunen nicht schlecht. Vor ihnen im Wüstensand liegt, zwischen ein paar faustgroßen Steinen, ein mattglänzender, weißlicher Gegenstand, der ein wenig an eine überdimensionale Erbse erinnert. „Komisch“, sagt Julia, „mir war so, als hätte das Ding grade noch eine rote Farbe gehabt." „Das ist wahrscheinlich Adams Zunge gewesen“, lacht Paul, der, wie er soeben feststellt, auf Julias Beobachtungsgabe noch nie viel gegeben hat. Aber seine Neugierde ist groß. Einem inneren Zwang folgend, greift er nach der weißlichen, etwa 5 cm großen, Riesenerbse um sie aufzuheben.

Bevor er sie sich jedoch näher ansehen kann, lässt er sie mit einem kleinen Schreckensschrei wieder fallen. Denn bereits in der kurzen Zeit, während er das Ding in der Hand hatte, veränderte es seine Farbe und Temperatur. Er könne schwören, es habe rötlich zu glühen begonnen und sei zudem heißer geworden, behauptet er.

Jetzt muss Julia lachen. „Es ist doch logisch, daß sich ein Stein in der Wüste heiß anfühlt." Mit diesen Worten hebt sie den Gegenstand wieder auf und behält ihn auch in der Hand, als er zu glühen anfängt. Seine Temperatur steigt zwar bei Körperkontakt an, ist aber noch gut auszuhalten. Außerdem beginnt er eine Art Strahlen auszusenden, die Julia eine Gänsehaut verschaffen. „Dieses Kribbeln ist gar nicht unangenehm“, gesteht sie verblüfft. Und sogar Paul kann es noch fühlen, sobald er Julia berührt.

„Wenn das beispielsweise eine der Sternschnuppen von heute Nacht war, dann müsste es doch eigentlich mehr davon geben“, meint Julia interessiert. Und etwas geldgierig geworden fügt sie hinzu: „Wir sollten uns auf den Weg machen und die ganzen Steine zusammensuchen, vielleicht sind sie ungeheuer viel wert – für die Wissenschaft oder so. Ich denke, wenn man sie schleift, könnten sie auch zu unbezahlbaren Schmuckstücken werden."

Auch Paul ist dieser Meinung. „Nach Adam müssen wir sowieso suchen. Schließlich können wir ihn nicht einfach hier lassen. Also machen wir uns auf den Weg. Aber trotzdem – du kannst mich ruhig für verrückt halten –: irgendwie kommt mir der sogenannte Stein lebendig vor."

Seltsamerweise hat sich inzwischen der Himmel verdunkelt. Das orangerote Leuchten der tiefhängenden Wolkenschicht hat sich verzogen und die Wolken selbst sind merklich dünner geworden. Über dem Horizont steht schon wieder – verschwommen durch den Dunst erkennbar – eine große runde Scheibe, die nichts anderes als der Mond sein kann.

„Sag mal Honey, wie lange haben wir eigentlich geschlafen?“, erkundigt sich Paul.
„Ich weiß nicht – warum?“ „Sieh dich mal um!“ „Hab ich schon bemerkt“, bestätigt Julia Pauls Beobachtungen. „Da müssen wir eben eine Taschenlampe mitnehmen. Du hast doch eine im Wagen?! Für philosophische Überlegungen haben wir jetzt wirklich keine Zeit." Adam ist verschwunden und unsere Zukunft wartet vielleicht da draußen auf uns."

Paul ist ein wenig verunsichert, geht aber brav zum Wagen, um die Taschenlampe und den ultimativen Rest der Vorräte zu holen. Bis jetzt hatten sie, der ungewöhnlichen Ereignisse wegen, beide nicht auf ihren knurrenden Mägen gehört, aber lange wird sich ein kleiner Snack nicht mehr hinauszögern lassen.

Überraschend schnell bricht die Dunkelheit herein und der knirschende Sand unter den Füßen der Abenteurer lässt eine unheimliche Stimmung aufkommen. Es dauert nicht lange, und Paul glaubt hinter sich die Schritte einer dritten Person gehört zu haben. Zum Glück haben sich jetzt alle Wolken verzogen. Die Landschaft glänzt im hellen Sternenlicht. Eine Orientierung ist daher gut möglich, zudem Paul noch über einen ausgezeichneten Ortssinn verfügt. Der Mond allerdings ist verschwunden, oder richtiger formuliert: Er ist noch gar nicht aufgegangen. Das jedenfalls stellt Julia erstaunt fest.

„Das ist noch gar nichts“, lacht Paul, „müssten nicht Leier und Schwan viel mehr im Nordosten stehen und nicht so weit westlich wie heute? Das ist doch der Sternenhimmel im Oktober. Und jetzt haben wir schließlich erst Ende Juli – oder?“ Julia lächelt sanft. „Ich weiß, daß du mich liebst, Großer, und ich weiß es auch zu schätzen, daß du mich beeindrucken willst, aber überlassen wir es lieber den Profis, zu wissen, wo die Sternlein stehen. Mein Hund ist verschwunden und meine Mitgift muss hier irgendwo herumliegen." Im selben Augenblick wird ihr klar, wie überreizt sie reagiert hat, aber es ist zu spät, denn da kommt es schon ...

„Weiber!“, knurrt Paul energisch. Jetzt hat er das Gefühl, sich durchsetzen zu müssen. Er will später nicht unter dem Pantoffel stehen. Aber bevor er etwas tun kann um das Gewicht seiner Persönlichkeit zu erhöhen, taucht ein glänzender, runder Gegenstand im Lichtkegel seiner Taschenlampe auf.

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