Vor mir liegt das Land deiner Seele. Früher war es ein weißer Fleck auf meinem Globus. Dann bin ich immer wieder zu dir gereist, um dich zu erforschen. Du lagst am anderen Ende der Welt! Ich habe Deine dampfenden Urwälder gesehen und ich hab deine reißenden Flüsse befahren. Deine stillen Seen waren für mich unergründlich. Unter ihrem unbewegten Spiegel lag nichts als die Gefahr? Ich tauchte in sie hinab und fand schwebende spitze Felsen, scharf wie Rasiermesser, aber keinen Grund!
Deine Berge waren nicht zu besteigen. Immer und überall hielten mich atemberaubende Überhänge davon ab, auch nur irgendeinen Gipfel als Aussichtspunkt zu erklimmen. Die Sterne in der Nacht, am Himmel über deinen Tundren und Steppen, waren alle gleich groß, gleich hell – ungefähr so wie uralte Straßenlaternen – und alle waren sie fix. Es gab keine Wandelsterne!
Der Mond war entweder halb oder neu und er stand zum Greifen nah und doch so fern über den Hausdächern deiner Geisterstädte, deren Bewohner längst abgewandert schienen. Nur manchmal hörte ich ein Weinen hinter geschlossenen Fensterläden und oft erschreckten mich die Luftschutzsirenen, die taten, als sei gerade ein vernichtender Konflikt ausgebrochen. Dann machte ich mir große Sorgen um dich.
Bei jedem meiner Besuche hängte ich meine Bekanntschaftsanzeigen an alle auffindbaren Werbeflächen. Nein, ich versuchte es nur, denn von all dem was ich tat blieb nichts haften. Ich konnte meine Thesen weder ankleben noch anstecken. Fürs Kleben war der Untergrund eindeutig zu feucht und wenn ich versuchte eine Reißzwecke rein zu drücken, dann blutete das leere Brett wie ein lebendiger Mensch.
Manchmal hörte ich auch fernes Kinderschreien. Die Laute klangen, als sei der Verursacher eingemauert. Und immer wehte ein eisiger Wind durch die Gassen. Dabei finde ich dich im Atlas unter „Gemäßigte Zonen“. Darüber wundere ich mich jeden Tag mehr … wer kann dergleichen behauptet haben?
Ich hab auch versucht, bevor ich dich bereiste, Erkundigungen über dich einzuziehen. Es gab viele Reisende, die angaben, bei dir gewesen zu sein, auf diesem ehemals weißen Fleck meines Globus. Dann erschrak ich jedes Mal. Sie berichteten von bunten Bazaren, von goldgepflasterten Gehsteigen, von romantischen Cafés und Theatern voller Leben und auch voll von blühenden Pflanzen am Wegesrand. Einige erzählten mir, in deinem Land blühten die Bäume das ganze Jahr über und die Seen seien so angenehm warm wie frisch eingelassene Badewannen. Jeden Abend führten die Sterne an deinem Himmel ein blinkendes Schauspiel auf und in deinen Rat-Häusern sei die Weisheit in Person Dauergast.
Als ich das erfuhr, stellte ich in meinem Zimmer Hinweisschilder auf, die in alle Richtungen – sowie nach oben, unten und in alle erdenklichen Schrägen – wiesen. Überall stand „zu dir“ drauf und fleißig folgte ich immer wieder einem anderen. Aber mit der Zeit musste ich feststellen, daß ich überall nur gespenstische Gegenden vorfand, ungeeignet für jedwede Kolonisierung. Ich versuchte sogar einmal ein Schloss zu erbauen. Aber bereits seine Grundmauern versanken sofort im Treibsand, oder die Wolken trugen es nicht. Heute liegen dort, wo ich es versuchte, überall die Trümmer meiner Bemühungen herum. Aber wohin ich auch in letzter Zeit komme, sehe ich überall Fahnen, halb zerfetzt vom Sturm.
Aufgestellt sind sie für mich. Es sind die Nationalflaggen deines Landes, in den Farben hellgrau, gilbweiß und dunkelbeige. Auf jeder von ihnen steht (ich kann es gerade noch entziffern): „Schäm dich“. Ich will sie schon nicht mehr ansehen. Verzweifelt suche ich deshalb einen Menschen in deinen Gegenden, unter deinen überhängenden Felswänden, im Dickicht deiner dampfenden Urwälder, an deinen stillen Seen und an all den reißenden Flüssen. Ich gehe durch deine Geisterstädte und rufe hinein: „Wann ist hier eigentlich jemand anzutreffen?“ Doch ich höre nur wieder die Sirenen, oder das eingemauerte weinende Kind.
Nun bleibt mir nichts weiter zu tun als Briefe zu schreiben. Es sind diplomatisch formulierte Depeschen an deine ständige Vertretung bei mir. Sie kommen alle ungeöffnet zurück! Trotzdem staune ich nicht schlecht, denn jedes meiner Schreiben trägt den Stempel „bearbeitet“.