Hasenzähne

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von Heide Nöchel (noé)

Seit ihrer Knie-OP war Margie nicht mehr die Wendigste. Darunter litt sie mehr als unter den Schmerzen, die sie immer noch hatte, besonders, wenn sie vom Sitzen ins Stehen kam. Früher war sie ja noch in der Lage gewesen, sich frei zu bewegen und beim Bingo oder in der Mall zwanglos auf Bekannte zu treffen, mit denen sie ein kleines Schwätzchen halten konnte, falls ihr danach war. Ihr war nicht oft danach, denn sie war eigentlich nie ein geselliger Mensch gewesen. Für die amerikanische Gesellschaft untypisch, hatte sie so auch keinen festen Freundesstamm, auf den sie hätte zurückgreifen können. Vom Grunde ihres Wesens her fand sie das viel angenehmer, aber ganz ohne Ansprache, das gefiel ihr natürlich auch nicht.
Blieb nur ihre Tochter in Oregon und die Telefonate mit ihr. Auch heute hatte sie wieder mit ihr telefoniert und – weil Margie in ihrer teils erzwungenen Zurückgezogenheit ja auch nicht mehr so viel erlebte, von dem sie berichten konnte – hatte sie Lisa von Benny, dem Paketboten, erzählt.
„Stell dir vor“, hatte sie gesagt, „Benny hat immer ein freundliches Wort für mich und auch schon mal einen lockeren Spruch auf Lager, kleines Scherzchen hier, dort mal ein paar aufmunternde Worte. Er hat zwar riesige Hasenzähne, aber er ist immer freundlich!“
Lisa hatte gestutzt: „Warum hast du mir das mit den Hasenzähnen jetzt erzählt? Hat das irgendetwas damit zu tun, dass er so nett ist?“
„Nein, natürlich nicht!“, hatte Margie verlegen gesagt und selber nach einer Erklärung für ihre Bemerkung gesucht, die möglichst logisch klingen sollte. „Sie sind halt nur so beeindruckend, vor allem, wenn er lacht. Richtig messerscharfe Hauer. Ich glaube, selbst wenn er den Mund schließt, sind sie noch zu sehen. Außerdem bin ich eben gut im Detail-Erzählen.“
„Aha“, kam es trocken von Lisa.
„Ja, weißt du“, schob Margie in ihrer Not nach, „seit der OP kann ich ja noch nicht wieder richtig laufen. Dr. Alfred hat zwar etwas anderes versprochen, aber bis jetzt bin ich immer noch sehr ans Haus gebunden.“
Wieder kam von Lisa nur ein „Aha.“
„Ja, und da habe ich das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden und mir über das Internet alle möglichen kleinen Dinge bestellt, die ich sonst selber kaufen gegangen bin – und Benny bringt sie mir.“
„Mom“, sagte Lisa, „ich habe dir schon lange gesagt, dass wir dir helfen, wenn du dir einen E-Scooter holen willst. Damit wärest du doch mobiler und kämst wieder unter die Leute!“
„Nein, danke, Lisa.“ Margie wurde das Gespräch wie immer unangenehm, wenn es an diesen Punkt kam. Einen E-Scooter! SO alt war sie ja nun doch noch nicht! Sie sah vor allem die alten Knacker im Schleichtempo an ihrem Fenster vorbeigleiten wie eine Erscheinung aus anderen Welten, den Blick starr geradeaus gerichtet. Nein, so weit war es noch nicht mit ihr!
„Es geht mir gut, Lisa“, betonte sie. „Die Lebensmittel bekomme ich vom Supermarkt geliefert, und der nette Benny bringt mir alles, was ich will, ich muss es nur bestellen. Er klingelt immer zweimal, dann weiß ich, dass er es ist, und er wartet geduldig, bis ich es an die Tür geschafft habe.“
„Ja,“ sagte Lisa, „er und seine beeindruckenden Hasenzähne. Ich weiß zwar immer noch nicht, warum dich die so fesseln, aber du musst es ja wissen! Denk dran, Mom, …“
„… lass nie jemanden Fremden in die Wohnung, du weißt nicht, wer es in Wirklichkeit ist!“, vollendete Margie den Satz, den sie früher immer ihrer Tochter vorgebetet hatte, und lachte. „Du nun wieder! Ich bin doch nicht senil!“
„Also dann, Mom, bis morgen, ich ruf dich wieder an!“, schon hatte Lisa aufgelegt.

Es dauerte nicht lange, da klingelte es verheißungsvoll zweimal. Das musste Benny sein! Als sie die Tür endlich öffnete, stand wirklich ihr Paketbote vor der Tür, aber er wirkte irgendwie ernst und bedrückt. Sie unterschrieb die Lieferung, doch von ihm kam kein fröhlicher Spruch wie sonst. Er trat von einem Bein auf das andere und fragte verhalten: „Ma’am, darf ich mal …“
„Ach, die Toilette benutzen?! Ach du liebe Zeit! Ich hab doch gerade …“. Überrumpelt überlegte sie blitzschnell. Benny war ja inzwischen kein Fremder mehr und er schien wirklich in Not zu sein, aber sie hatte ihre Leibwäsche noch im Bad verteilt, die durfte er auf keinen Fall sehen! Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn sie schnell …
„Kommen Sie rein, Benny, aber bitte einen kleinen Moment noch, ich muss erst …“
In Trippelschritten ging sie Richtung Bad. Als sie über die Schulter blickte, sah sie ihn aus dem Schlafzimmer kommen.
„Nein, Ben, hier!“, rief sie, „Das Bad ist hier!“
Schnell raffte sie ihren BH und den anderen Kram zusammen und wollte noch einmal die Toilette abziehen. Zu ihrer Verwirrung lief kein Wasser nach. Probehalber drehte sie im Waschbecken den Hahn auf – auch hier kein Wasser. Ausgerechnet! Ihre Verwirrung verhinderte jeden klaren Gedanken. Margie blickte um die Ecke und sah Benny aus der Küche auf das Bad zukommen. „Wir haben leider kein Wasser,“ sagte sie, „aber Sie sind ja schnell fertig …“.
Margie wollte an ihm vorbei aus dem Bad gehen, doch er stand wie ein Fels vor ihr, hielt sie an einem Arm fest und rückte keinen Zentimeter. Irritiert sah sie auf und ihm ins Gesicht. Seine Hasenzähne waren wirklich von enormer Größe, aus dieser Perspektive besonders.
Emotionslos raunte er: „Das weiß ich noch nicht, Margie. Aber du.“
„Lass nie jemanden Fremden in die Wohnung!“, zitierte sie ihre Tochter. Fasziniert klebte ihr Blick an Bennys wirklich beeindruckenden Hasenzähnen. Dann spürte sie nur noch, wie er ein Messer in ihrem Brustkorb versenkte und wunderte sich, dass es gar nicht wehtat.

Mit einem Schnaufen erwachte Margie und wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Das Herz raste im Stakkato, sie sah, es war Tag und dass sie im Sessel eingeschlafen war. Eine Gänsehaut bedeckte ihren gesamten Körper und sie schnappte nach Luft. Holy moly, das war ein Traum!! Gott sei Dank war es nur ein Traum! Langsam fand sie sich wieder in der Realität zurecht und schnaufte erneut tief durch.

Ein Schreck lähmte ihre Glieder, als es in diesem Moment zweimal kurz klingelte – Benny-Bunny! Sie blieb wie angenagelt sitzen und wartete mit dröhnendem Herzklopfen im Hals und in den Ohren. Nach einiger Zeit klingelte es erneut zweimal, diesmal etwas länger. Die Augen schreckgeweitet, rührte Margie sich keinen Millimeter. Erst als sie hörte, wie das Paketauto wieder startete und aus der Einfahrt fuhr, gönnte sie sich einen tiefen Atemzug. Das mit dem Bestellen, das musste sie noch einmal gründlich überdenken. Und vielleicht war ein E-Scooter doch keine so schlechte Idee. Vorerst jedenfalls …

© noé/2018

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