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verfleckten Matratzen. Das alles ist in der Dämmerung nur noch schemenhaft erkennbar. Anna zieht sich aus. Legt ihre Kleidung sorgfältig zusammen gefaltet auf dem Hocker ab, der vor dem Bett steht. Den kratzigen Beiderwandrock, den vom Bruder geerbten Pullover. Die ausgeleierte immer zu große Unterwäsche. Die von der Mutter gestrickten Kniestrümpfe. Sie stellt die Schnürstiefel akkurat nebeneinander darunter. Schüttet etwas Wasser aus dem Krug in die gesprungene Waschschüssel. Wäscht sich hastig Gesicht und Hände. Spült den Mund aus. Reibt mit dem Zeigefinger heftig über ihre Zähne. Richtig geputzt werden können sie nicht. Sie hat weder Zahnpasta noch Zahnbürste. Das stört das Mädchen am wenigsten. Nachdem sie in ihr Flanellnachthemd geschlüpft ist, entflicht sie ihre dicken Zöpfe. Setzt sich auf die harte Bettkante. Faltet die Hände und versucht zu beten. Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm, und behüte meine Mutter, meinen Vater, Bruder Rainer, Bruder Wolfgang, Bruder Wilhelm. Weiter kommt sie nicht. Der Vater, die Brüder im Krieg, sind sie tot? So wie die Männer des Bauernhofs? Wie geht es der Mutter und dem kleinen Bruder? Die aufsteigenden Tränen unterdrückt sie. Jetzt bitte nicht weinen. Versuch, an etwas Schönes zu denken. Das hat ihr die Lieblingstante Emma geraten. Die jüngste Schwester ihrer Mutter, an der Anna hängt. Hoffentlich geht es der Tante gut. Hoffentlich denkt sie oft an mich. So wie ich an sie. Anna betet weiter. Behüte alle, die ich lieb habe. Behüte auch mich, lieber Gott. Mach, dass ich bald wieder nach Hause komme. Und dass der Krieg sie alle am Leben lässt. Dann schlägt sie ein Kreuz, so wie es die Bauernfrauen machen. Kriecht unters klumpige Plumeau. Zieht es bis zum Kinn hoch. Starrt in die Dunkelheit. Hofft, dass bald ein tiefer Schlaf mit guten Träumen kommt. Der ihr solange Ruhe verschafft, bis es draußen wieder hell ist. Doch nach ein, zwei Stunden ist sie wieder wach. Haben nicht die Treppenstufen geknarrt? Sie setzt sich aufrecht, erstarrt. Horcht angespannt. Da, schon wieder. Sie erhebt sich leise. Tastet sich im Dunklen zum Bettende vor. Packt den schweren Hocker, auf dem ihre Kleider liegen. Und schiebt ihn vor die Türe. Setzt sich darauf, damit er schwerer ist. Es klopft irgendwo im Häuschen. Er sucht mich, denkt sie angstvoll. Er, der Dieb, der Einbrecher, der Böse. Erst als es ihr zu kalt und die Müdigkeit zu groß wird, begibt sie sich wieder ins Bett. Kuschelt sich tief unter die Zudecke, schläft wieder ein. Bald wacht sie von Albträumen gequält erneut auf. Und horcht, zittert vor Furcht. Wenn sie dann ins Zimmer starrt, scheinen manchmal der braune Kleiderschrank, die dunkel tapezierten Wände, selbst das Bild mit dem röhrenden Hirsch, das über dem Bett hängt, direkt auf sie zuzustürzen. Dann kommt es vor, dass sie laut um Hilfe schreit. Obwohl sie weiß, dass es zwecklos ist. Denn da ist niemand. Entspannen kann sie sich erst, wenn es zu dämmern beginnt. Wenn die Umrisse in ihrer Umgebung wieder schärfer werden. Dann schläft sie endlich ein. In solchen Nächten weint sie selten. Denn sie weiß, sie muss tapfer bleiben. Die Zähne zusammen beißen. So wie die Männer an der Front. Die Brüder, der Vater. Sie denkt auch an Harald, der gegenüber von ihrem Elternhaus wohnt. Ob er jetzt Soldat ist? Wie gerne hat sie ihn in seiner Dachwohnung besucht. Und ihm interessiert dabei zugeschaut, wie er seine wertvollen Briefmarken vorsichtig mit der Pinzette aufnimmt, um sie in sein Album einzufügen. Harald las ihr auch Sagen von griechischen Göttern vor und spielte Schwarzer Peter mit ihr. Anna vermisst auch ihn. Tagsüber verspürt sie weniger Furcht. Ist abgelenkt, hat etwas zu tun. Sie geht auf die Weide. Passt auf, dass keine der Kühe wegläuft. Dann hat sie einen Haselstock in der Hand und fühlt sich als stolze Kuhhirtin. Nur den Ziegenbock fürchtet sie. Wenn er seinen Kopf senkt und mit seinen geschwungenen Hörnern einen Angriff auf sie startet, flieht sie auf den Felsbrocken, der mitten auf der Weide liegt. Da oben sitzend kommt sie sich dann feige vor. Anna hat den Kopf voller Lieder. Wanderlieder, Kirchenlieder, Gassenhauer. Melodien und Verse kann sie sich leicht merken. Sie singt sie vor sich hin. Selbst die Schweine betrachtet sie als Freunde. Wird eins von ihnen geschlachtet, hört sie das an dem durchdringenden schreienden Quieken, das die Tiere in Todesnot von sich geben. Dann hält sie sich die Ohren zu und leidet mit. Während der ersten Wochen im Schwarzwald ist sich Anna noch sicher, dass sie bald wieder abgeholt wird. Doch dann kommt die Nacht, die alles verändert. Sie ist schon fast eingeschlafen, als sie vom Hof her ein ungewöhnliches Gemurmel vernimmt. Neugierig zieht sie sich etwas über und läuft über das Brückchen zum Hof. Ihr Blick fällt sofort auf den Himmel, der in nördlicher Richtung leuchtend rot flackert. Die Frauen stehen nebeneinander, die Arme in die Hüften gestemmt. Staunend betrachten sie den unheimlichen Feuerschein. Anna stellt sich dazu. Sie fragt die alte Bäuerin Magda, was das zu bedeuten hat. Die meint, schau nur hin, Anna. Das ist deine Stadt, die brennt. Könnte gut sein, dass deine Familie das nicht überleben wird. Anna weiß nicht, dass diese Aussage falsch ist. Ihre Stadt ist vom Schwarzwald weit entfernt. Also glaubt sie der alten Frau. Die Bomben aus den Flugzeugen, die sie täglich am Himmel hört und sieht, sie haben meine Stadt getroffen. Alle, die ich lieb habe, sind in Gefahr. Oder tot. Anna stellt sich dicht neben die alte Bäuerin. Wünscht sich, dass die mit ihr spricht. Sie an der Hand oder in den Arm nimmt. Aber die alte Magda raunzt nur barsch, stell’ dich nicht an. Und fang bloß nicht an zu heulen. Dir passiert nichts, hier bist du sicher. Trösten kann ich dich nicht. Mich hat auch keiner getröstet. Als mein Egon und die drei Söhne gefallen sind. Sie sind so hoffnungsvoll in den Krieg gezogen. Haben an den Sieg geglaubt. Der Krieg, das ist eben der