Lebenskünstler O: Eine ganz blöde Angelegenheit - Page 3

Bild von Klaus Mattes
Bibliothek

Seiten

ist alles steinig, kalt und nass.
Meine Brille liegt hier nicht.
Ohne Grund bekomme ich eine Panikattacke. Woher weiß ich, ob sie nicht im Gebüsch lauern, hinter der Bank, die ganze Zeit zugesehen haben?

Ich muss nach Hause.

Ich brauche als Erstes meine alte Brille und die Taschenlampe. Ich hetze durch die Stadt. Ich stehe an roten Ampeln, das Licht dringt zerlaufen in Kurzsichtigkeit und Nachtblindheit. Ich prüfe mein Gesicht.
Das Blut wird mehr.
Harmloses Nasenbluten. Ruhig. Ich drücke mein Taschentuch dagegen.
Gleich wird jemand kommen und fragen, ob alles in Ordnung ist mit mir, ob ich Hilfe brauche. Was werde ich ihm sagen?
Aber keiner sieht mich. Niemand spricht ein Wort.

Nachdem ich Minuten in meinem Zimmer gestanden habe, stoppt das Blut. Die Backe ist aufgeschürft. Ich schmiere Merfen drauf.
Zum Glück ist das Rad ausnahmsweise nicht kaputt. Damit bin ich schnell wieder oben.

Ich leuchte mit der Taschenlampe.
Immer noch kein Mensch. Dass die noch hier sind, glaube ich nicht. Aber die Brille ist auch nicht mehr da.
Die Brille ist spurlos weg.
Das kann ja nicht sein.
Zertretene Stücke müssten zu finden sein.

Geschlechtsverkehr, ist das nicht ein komisches Wort?

Benutzt habe ich es nie, nicht in meinen Gedanken. Doch für Wortwitz ist der Polizist nicht empfänglich. Seine Ruhe hat er weg. Anfangs hat er mich nicht reinlassen wollen, hat gedacht, er kann mich unter der Tür abfertigen. Dann lässt er mich auf der Bank im Gang schmoren. Verschwindet im Haus.
Am Ende führt er mich in ein Büro. Er setzt sich an einen Schreibtisch, auf dem eine monströse Schreibmaschine Wache hält. Die fasst er nicht an.

Er notiert sich vorerst alles mit Kugelschreiber auf einen Spiralblock.
Dann muss ich mehrere Papiere unterzeichnen.
Der Polizist ist wie eine Kröte, er lässt mich jede Sache drei Mal aufsagen.

Er sieht mir kein einziges Mal in meine Augen. Entweder habe ich was ausgefressen oder er. An der Wand hängt ein Zifferblatt.
Bin schon über eine Stunde hier, hab noch keinen gesehen als ihn hier.
Im Raum Bullenhitze. Dennoch hat der Polizist seinen Parka an, gefütterte Mütze mit zusammengebundenen Ohrenschützern auf dem Kopf.
Habe ich es mit einem Durchgeknallten zu tun?

Also, das Kennzeichen ist unbekannt.
Familienname unbekannt.
Vorname Marc.
Wohnort wahrscheinlich falsch.
Alter nicht exakt zu bestimmen.
Arbeitsstelle unbekannt, eventuell Mannheim, vielleicht falsche Angabe.

Da wird sich wahrscheinlich nicht viel machen lassen.

„Jetzt ist es zu spät, um nach denen zu suchen. In solchen Fällen kriegen wir die früher oder später aber immer. Sie bekommen Bescheid. Ich fahr nachher rüber und suche nach Ihrer Brille.“

Dieser Park, sagt der bemützte Polizist, ist sehr bekannt dafür, dass dort nachts was vorkommt, in der Nacht ist dieser Park sehr unsicher und das ist eigentlich stadtbekannt. Mir müsste das wohl auch bekannt sein.
„Warum gehen Sie überhaupt hin um so eine Zeit? Sie müssen ja nicht!“

Dieser Mensch ist nicht durchgeknallt. Er ist einfach nur doof.
„Also, geraubt ist nichts worden. Festgehalten und geschlagen. Sie sind sich ganz sicher, dass es nicht Ausländer gewesen sind?“
Mit Ausländern wäre seine Begeisterung vielleicht echter.

Der Morgen ist sehr nah. Ich kann gehen.

Je näher ich meiner Wohnung komme, desto mehr Angst habe ich. Marc und der Kumpel könnten mich abpassen, um das zu verhindern, was ich soeben getan habe: sie bei der Polizei anzeigen. Muss ich nicht auch noch zum Arzt? Es könnte was gebrochen sein.

Ich radle hinaus zum Krankenhaus. Fast bin ich dort, da fällt mir ein, dass das alte Krankenhaus schon lange geleert wird und demnächst abgerissen werden soll. Das neue ist genau in die entgegengesetzte Richtung und auf dem Berg.

Der an der Pforte lässt mich nicht rein. Die Unfallstation sei in der neuen Klinik. Er ruft durch, dass ich noch komme.

Ich fahre in die Innenstadt zurück, über die Brücke, den Berg hinauf. Mit einem Mal rasende Wut. Ich bin von Idioten umzingelt in dieser Welt hier! Ich hatte es ein Leben lang geahnt, ab heute weiß ich es sicher.

Fensterlose Räume, Maschinen, Assistenzärzte, Pfleger. Nach zehn anderen kommt einer, der mich auch wirklich ansieht und zuhört.

„Glückwunsch! Ihr Jochbein ist zertrümmert. Das müssen wir operieren, sonst ist die Schönheit futsch.“

Die Stationsschwester ist aus Russland. Ich kenne diesen Zungenschlag. Sie führt mich am Arm. Warme Gefühle überströmen mich.

Eine Spange mit sechs Schrauben kommt unters linke Auge.

Nach einem halben Jahr wird sie wieder entnommen werden.

Der Park macht mir Angst. Alle Schwulen, denen ich diese Geschichte erzähle, feixen ein wenig und scheinen zu meinen, ich hätte die Quittung bekommen, weil ich einen Hetero angebaggert habe. (Alle außer mir sagen sonst ja bei jeder zweiten Gelegenheit, dass man jeden Hetero irgendwie kriegen kann und dass es dann ganz toll ist.)

„Es musste so ja mal kommen! Du bist immer unvorsichtig. Du rennst los auf alles.“

Marc ist nicht vollkommen fremd hier, stellt sich allmählich raus.
„Hetero“, sagt einer, „beim Sex kriegt man das mit.“

Nach ein paar Tagen, als ich den, der vom Sex mit dem Hetero erzählt hat, bitte, ob er mir nicht noch was sagen kann, damit die Polizei Marc findet, sagt er: „Marc? Nein, Marc hat der gar nicht geheißen. Der hat, glaub ich, Achim geheißen. Wir meinen nicht denselben.“

Keinerlei Nachricht von der Polizei. Monate.

Marc steigt aus einem hellen Golf.
Keinerlei Zweifel, dass er‘s ist. Allein.
Zum ersten Mal kann ich ihn schon sehen, wie er vom Wagen zum Parktor läuft und dort drinnen verschwindet. Ich kenne ihn als Sitzenden oder Liegenden. Ich bin heute nicht alleine unterwegs. Alex, der komplizierte Student, ist dabei. Wir gehen die Mauer entlang und lesen Marcs Kennzeichen ab.

Marc kommt aus dem Park raus, sieht uns dort, steigt ein und fährt weg.

In dieser Nacht betrete ich das Haus von der Tiefgarage her, schleiche das Treppenhaus ohne Licht hoch.

Am nächsten Tag rufe ich bei der Polizei an. Niemand will meine Nachricht aufnehmen. Immer noch wäre der eine Kollege von damals für den Fall zuständig und nur ihm solle ich meine Beobachtungen mitteilen. Morgen hätte er ja wieder Dienst. Am folgenden Tag schreibt er sich tatsächlich das Kennzeichen von Marc auf.

Weitere Monate. Nichts passiert.

Wütend rufe ich die Polizei an. Marc sei doch identifiziert, höre ich. Marc sei vernommen worden und geständig. Demnächst würde ich von der Staatsanwaltschaft Post erhalten. Ich bin jetzt Zeuge in einem Verfahren des Staates gegen einen Gewalttäter.

Eine warme Sommernacht und wir sind viele

Seiten