Lebenskünstler O: Eine ganz blöde Angelegenheit - Page 4

Bild von Klaus Mattes
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im Park.

Es hat sich eine dieser Runden gebildet, wie es sie vor Jahren angeblich öfter gegeben hatte, wie sie nur noch ganz selten, plötzlich und unerklärlich zustande kommen. Man reicht einen Joint herum. Wir sind auf dem Platz am Sedandenkmal. Die Bank voll, Leute darum auch noch. Die ihn mir gibt, ist die gemeine Schlampe. Wir beide kennen uns schon seit Jahren nicht mehr. Hier sind heute aber allerlei Bekannte sowohl von ihr wie von mir dabei, da ist man dann nicht so. Ungefähr der zweite Joint in meinem Leben und ich will jetzt mal endlich auch eine Wirkung erleben.

Der mit dem Joint ist ein Italiener mit langen Haaren, ein Großmaul und feiger Trickser. Er hat einen fetten Deutschen dabei mit Bart. Den Fetten sah man hier schon öfter, den Italiener gibt’s sonst immer nur im Lokal.

Der Fette sagt: „Wir könnten zu mir, Porno reinziehen und Orgie starten. Das wär was.“

Kein Jahr, ohne dass einem irgendwer genau das vorschlägt. Noch nie ist dann einer mitgegangen. Es sind jedes Mal Typen wie der Fette, die es vorschlagen. Wenn du sagst, der Geile hat vorgeschlagen, eine Orgie zu starten, lachen die Hühner.

Tritte von Stiefeln auf dem Teer. Zwei gut gewachsene Recken. Welche natürlich Nazis oder Schläger sein könnten. Zum Glück bloß zwei und wir sind ja mehrfach so viele. Die Muscle Shirts, die sie tragen, sehen gar nicht nach Nazis, sehr nach Schwulen aus. Sie gehen vorbei, keiner sagt etwas.

Allerdings ist Marc der eine von den Zwei. Das habe ich bald gemerkt.

Sie drehen die große Runde. Wird kaum irgendwo noch einer stecken. Sie kommen wieder. Steif wie Gardesoldaten. Mehr oder weniger sind sie schon wieder vorbei, da muss die blöde Italienerkuh das Maul aufreißen!
„Hach, geh’n da zwei Hengste! Werd ich ganz feucht!“

Marc schnellt herum.

„Was ist? Hat die Tunte was gewollt?“
Er schaut die Runde durch, die Runde weicht schweigend zurück. Die Zwei gehen zur Bank her und stellen sich ganz dicht.
„Wer war das? Wer hat was gewollt? Ich glaub, die Tunten haben ein Problem.“

„Der hier war’s.“ Der zweite Mann hat den Italiener bei seinen langen Haaren gepackt.
Ich sitze bleiern.
Alle von der Bank. Keiner rührt sich, keiner sagt was.
Sie bekommen nacheinander jeder einen Hieb auf ihre Brust.
Nur nicht ich. Mir passiert nichts.

„Naaaa? Klein mit Hut“, sagt Marc. „Hosenscheißer wie ihr müssen aufpassen, was sie für Dreck reden. Haben wir uns verstanden? Ihr habt mich doch verstanden, oder?“
Die meisten sagen Ja und senken das Haupt.
Ich habe nichts gesagt. Ich habe mein Ja nicht gesagt.

„Glaub nur nicht, dass ich dich nicht kenn!“, blafft Marc und reißt mich am Kinn. „Du kennst mich, was?“
„Ja“, sage ich.
Er beugt sich zu mir.
„Du Arschloch lässt das bleiben! Kapito? Du unternimmst nichts gegen mich, sonst mach ich dich platt. Ich weiß genau, wo du wohnst. Du weißt doch.“

Allen anderen geht es schon wieder gut.

„Hast du kapiert, was ich gesagt hab?“
„M-hm.“
„Sag: Ja Sir, ich habe kapiert!“
„Ja, Sir, ich hab es kapiert.“
Ich würde ihn in die Fresse schießen, wenn mir einer hier eine Pistole hätte.

Die Verhandlung fängt ohne mich an. Ich muss im Gang warten. Hatte nicht dran gedacht, dass ich als Zeuge geladen bin, andere Aussagen vor der eigenen nicht anhören darf.

Als ich den Saal betrete, sehe ich mich ganz schnell um. Statt Marc ist ein kleiner Junge dort. Dermaßen klein und jung ist er nicht mal bei unserem ersten Mal gewesen. Und war noch der Pummel vom Dorf.
Marc scheint vor kurzem einem Heulkrampf gehabt zu haben. Das Gesicht ist ganz rot und zerknautscht. Seine Augen lassen, während ich befragt werde, den Fußboden nie los. Immer wieder sehe ich zu ihm hin, immer starrt er den Boden an.

Marc hat mich nie getroffen vor jener Nacht im Februar. Als der Unglücksfall vorgekommen ist.
Marc ist nicht homosexuell.
Im Februar war Marc alleine im Park.
Es stimmt nicht, dass es da noch einen Begleiter gegeben hat.
Marc und ich hatten nie Geschlechtsverkehr.
Marc ist nicht homosexuell.
Es trifft zu, ein paar Mal ist er durch den Park gegangen. Nachts auch und allein.
Er hat nicht gewusst, dass Homosexuelle sich dort auch aufhalten könnten.
Er ist nicht homosexuell.
Was die dort machen, geht ihn nichts an, es interessiert ihn nicht. Er hat mit diesen Leuten nichts zu tun.
Ja, schon, mich hatte Marc schon mal früher gesehen in dem Park.
Bei dieser ersten Gelegenheit war ihm schon auch der Gedanke gekommen, dass ich homosexuell sein könnte.
Ich war Marc nachgelaufen, hatte ihn mit obszönen Gesten animieren wollen.
Vermutlich homosexuelle Anmache, das dachte er sich, aber er hat nicht reagiert.
Marc und ich haben kein einziges Mal eine Unterhaltung geführt.
Es tut ihm alles so Leid, was dann passiert ist.
Er kann sich selber nicht mehr mögen, seitdem jemand durch eine Schuld zu Leid gekommen sind.
Er ist ja nicht so ein Mensch.
Darum bleibt ihm nichts übrig, als auszusprechen, dass er versagt hat in der Februarnacht. Alle Sicherungen sind ihm geknallt.
Eben dadurch, dass ich ihn festzuhalten versucht habe.
Dass ich auf ihn losgegangen bin und versucht habe, ihn in sexuelle Handlungen rein zu verführen.
Das ist eine Angstsituation gewesen.
Mit einem Mal in blinder Panik. Denkvermögen war ausgeschaltet.
Es war in dem Moment, wie wenn es außer Zuschlagen keine Rettung mehr gäbe.
Das ist eine absolute Fehleinschätzung von dieser Situation gewesen.
Es stimmt ja, ich habe nicht geschlagen, körperlich ihn ja nicht angegriffen.
Aber intim berührt hatte ich ihn.
Es tut ihm so Leid, was da war.

Die Tränen in seinen Augen. Wäre ich ein Schwuler von Mitte dreißig, der in jener Nacht nicht betroffen gewesen ist, und würde den empfindsamen Marc so leiden und heulen sehen, ich würde mir meine Nachstellung selbst übel nehmen.

Schräg hinter Marc sitzt der alte Mann.

Bisher hatte ich auf den alten Mann nicht Acht gegeben, immer nur nach Mark und dem Richter geschielt. Mitten in der Verhandlung steht der alte Mann auf und fängt eine große Rede an.

„Wenn ich hier mal was sagen dürfte. Ich bin ja der Vater.“

Unmöglich kann dieser Alte Marcs Vater sein. Seine Aussprache ist auffällig ostdeutsch, es gibt nicht die geringste Ähnlichkeit in ihren Gesichtern. Der Mann ist zu alt, er dürfte fast siebzig sein.

Der Richter macht unwillig Zeichen, aber dann kann der alte Mann doch so viel schwatzen, wie er mag. Ich verstehe: Er tut das schon die ganze Zeit in diesem Prozess.

„Der Zeuge hat hier einen überzeugenden Eindruck hinterlassen. Ich möchte seine Worte an keiner Stelle in Zweifel ziehen. Aber, schauen Sie mal, dem Jungen muss man einfach glauben! Dafür muss man ihn sich nur anschauen! Sehen Sie doch hin, dieser Junge sitzt dort drüben und er ist gebrochen! Das nagt in ihm. Er ist ja völlig überfordert von dieser Situation hier! Auf mein Wort als Vater brauchen Sie natürlich nichts zu geben.
Aber dass das dort ein durch und durch guter Junge ist, sieht doch einfach jeder! Ich schwöre Ihnen, so etwas, wie vorhin hier gesagt wurde, das hat mein Junge nicht getan und hat er nie tun können. Dafür ist sein Herz zu gut. Und weiterhin.
Bitte, wenn Sie mir nicht glauben, ich bin doch der Vater, wenn Sie mir nicht glauben, dann lade ich Sie ein!
Kommen Sie doch vorbei zu Haus und sehen Sie sich einmal um in unserer Familie! Sie alle hier sind eingeladen, jederzeit. Sie können kommen, wann Sie Lust haben.
Ich als sein Vater, ich weiß so was doch einfach. Der Junge ist nicht homosexuell.
Das wird ihm hier angehängt.
Es sind so viele Freundinnen, so viele junge Frauen sind ständig um meinen Marc herum, wenn man es mal gesehen hat, weiß man, dass so ein Junge nicht homosexuell sein kann.“

Es gibt eine längere Unterbrechung. Das Gericht verschwindet im Nebenraum.

Während der ganzen Zeit sitzt Marc vorne, hat sein verheultes Gesicht und schaut starr zum Boden. Aber der alte Mann, dieser Rhetor aus dem Osten, er beugt sich von hinten über Marc und umarmt ihn. Lange flüstert er ihm ins Ohr.
Dann streichelt seine Brust.
Dann steht er auf, geht um Marc herum, beugt sich zu Marc hinunter und küsst ihn mitten auf den Mund.

Dann wird Marc zu fünfzig Tagessätzen à fünfzig Mark verurteilt.

Ein anderer Sommer fängt an.

Und auch in diesem Jahr kommen wieder ein paar Leute hinzu, die man nicht kennt. Wieder ist ein junger Kerl dabei. Wieder ein gut Gewachsener in den Zwanzigern.

Ich lasse den einfach mal laufen.

Ich weiß, dass alle gleich hinterher sind bei so einem. Und wenn der Junge auch nur einen von den Alten wollte, sie fänden keine Ruhe, weil alle anderen nicht nachlassen und ihnen bis ins Gebüsch hinein folgen.

Es wird immer später, er rennt und rennt. Dann ist überhaupt keiner mehr sichtbar, der wenigstens halbwegs noch für ihn in Frage kommen könnte. Und er ist immer noch nicht weg und sucht immer noch.

Jetzt kann man überlegen. Vielleicht will man sich auch noch dranhängen.

Der gut Gebaute geht langsam vor mir her. Dieser Schöne hier schlägt keine Haken. Er schaut sich nicht um nach einem. Er versucht nicht, einen abzuschütteln. Er steht beim Sedandenkmal und wartet, bis ich näher bin.

Fast bin ich bei ihm, da erschrecke ich. Er sieht ja richtig gut aus. So neu, so jung, so unbekannt, so schön, das ist zu gut für meine Spielklasse!
Er dreht jetzt auch ab und läuft mir davon.

Alle machen das natürlich zu Anfang so. Auch die, die einen wollen. Man schiebt immer gern ein bisschen Bedenkzeit dazwischen, in der noch was Besseren kommen kann.

Er bleibt immer wieder stehen. Wenn ich fast dort bin, geht er weiter, aber nicht wirklich schnell. Er bleibt wieder stehen.

Dann steht er nur noch. Er schaut weg von mir und rührt sich nicht. Mitten auf dem Weg. Ich bin nur eine Armlänge von ihm weg. Ich kann den Arm heben und nach ihm greifen.
Meine Finger gehen bis kurz vor seine Brust.
„Mann, du hast Nerven. Dass du dich noch traust!“
Es ist Marc.
Die ganze Zeit habe ich ihn verfolgt und er hat gewusst, dass ich ihn haben will.

Ich drehe ganz schnell um. Keine Angst zeigen, nicht rennen, ich gehe zügig aufs nächste Tor zu.

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