Anna-Conducta

Bild von W.Haller
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Es war ein schwüler Tag. Wir waren schon lange unterwegs, und endlich hatten wir ein Waldrestaurant mit einem halbwegs ansprechenden Außenrevier gefunden und dort die einzigen freien schattigen Plätze, die sich allerdings in unmittelbarer Nähe eines mit zwei Frauen und neun Männern voll besetzten Tisches befanden. Wie sich schnell herausstellte, war das die Mittagspause ihrer ersten Wochenendveranstaltung zum Thema „Selbstfindung - Selbsterfahrung“ im Rahmen eines 5- teiligen professionellen Partnersuche- Seminars.
Eigenartige Typen, alle im mittleren Alter, sehr gesprächig und in achtungsvollem Miteinander, wie es in solchen Gemeinschaften zunächst oft ist, und jeder von ihnen hätte von einem
unvoreingenommenen Betrachter mit etwas Sachverstand den Stempel „Unvermittelbar!“ auf die Stirn bekommen. Ihre Umgebung schienen sie nicht wahrzunehmen, und sie sprachen so laut über ihre Intimitäten, als wären sie ganz unter sich. An der Stirnseite direkt neben uns saß offensichtlich der Veranstaltungs- Guru, der seinen wechselnden Gesprächspartnern stets glaubhaft versicherte: Ich verstehe dich!
Jeder ist für sich ein Unikat. Da ist der Fünfunddreißigjährige mit blasser Haut, wirrem Schwarzhaar, eingefallenen Wangen und Dreitagebart, der lässig auf seinem Gartenstuhl schrägliegt und ab und zu laut lacht.
Oder, mit dem Rücken zu uns, sein Gegenüber, mit glatt geschorenem Schädel, dessen Anatomie mit kleinen Beulen, Huckeln und Schatten zum Hinsehen zwingt, und auf dem sich bereits graue Sprossen melden. Seine braune Seidenweste reflektiert metallisch das einfallende Licht, das darunter befindliche schneeweiße Hemd hat kleine Falten und Rüschen, dazu trägt er enge helle Hosen, ebenfalls mit metallischem Touch und beigegraue Texasschuhe, die mit ihren unglaublichen Messingspitzen an die drei Musketiere erinnern und das makellose Ensemble nach unten abschließen. Auch er lacht ab und zu unnatürlich laut, spricht jedoch nur spärlich und leise. Ein schräger Typ um die 50, der beim Wenden des Kopfes bei uns eine „optische Enttäuschung“ auslöste.
So könnte man reihum gehen, keiner ist von der Stange, am wenigsten jedoch Anna- Conducta, die ab jetzt als unsere Protagonistin Regie, Dramaturgie und Schauspielerei zugleich übernimmt und das vorliegende Gedächtnisprotokoll zum Einpersonen- Stück machen wird.
Anna- Conducta sitzt uns zugewandt und etwa zweieinhalb Meter von uns entfernt, aber sie hat uns mit einiger Sicherheit noch nicht bemerkt, so beschäftigt ist sie mit sich selbst. Ihre blasse Haut steht in merkwürdigen Kontrast zu ihrem schwarzen Haar und der schwarzen Kleidung, sie ist zwischen klein und mittelgroß, 35 und 40 sowie zierlich und zäh angesiedelt, und als seinerzeit die Schönheit verteilt wurde, hat sie sich nicht vorgedrängelt. Diese Bescheidenheit hat sich sichtbar nicht gelohnt, und sie hat sie längst abgelegt, wie man an ihrem Wesen und Verhalten bemerken wird, denn sie spricht nahezu ununterbrochen, gefragt und ungefragt, zu all ihren Beisitzern und auch zu uns in gleichbleibendem Tonfall, ein endloser Monolog, in dem sie ihr Innerstes offenbart. Dabei sieht sie alle oder niemanden an, ihr Timbre ist klar, ihr Hochdeutsch gut, die Tonlage etwas tiefer als üblich, die Sprach- und Sprechweise unüberhörbar und das Vokabular mitunter etwas geschraubt. Alles, was sie sagt, ist Selbstdarstellung, Selbstbespiegelung und ein Bündel eigener Forderungen an den (nicht vorhandenen) Partner und das (nicht vorhandene) Leben mit ihm. Ab und zu stellt sie Zwischenfragen an sich bzw. ihre Zuhörer, die sie dann gleich selbst beantwortet, und zwischendurch fragt einer ihrer Seminarkollegen irgendwas, das lockert die Situation. So sagt sie: Ich bin nicht einfach, besser gesagt: Man hat es mit mir nicht einfach, ich passe mich nicht an oder ein, es ist ziemlich schwierig mit mir, man muss mich nehmen, wie ich bin. Teamarbeit liegt mir nicht, und überhaupt sind die üblichen Arbeiten alle nichts für mich, ich hasse das. Haushalt und solche Sachen sind die Katastrophe, ich brauche wenig, aber so ganz bestimmte Sachen gehören bei mir dazu, so meine Ernährungsriten, wo ein anderer mich für komplett bescheuert halten muss, wenn der zum Beispiel mein Frühstück sehen würde.
Ich war ja mal verheiratet, aber dann ist mein Mann fremdgegangen, und da habe ich mir das Versprechen gegeben, mich niemals wieder so tief kränken und verletzen zu lassen, nie, nie, nie, nie, nie! Und dabei habe ich ihn geliebt, 12 Jahre habe ich niemand mehr an mich rangelassen, Nähe macht mich fast verrückt, da könnte ich gewalttätig werden.
Aber nun hab ich mir gedacht, ich bin im Prinzip reif für ne Beziehung, aber das ist ja nicht so einfach. Und außerdem, es kann nicht irgend son Kerl sein, da gehört bei mir schon mehr dazu, absolute Ehrlichkeit, hundert Pro Vertrauen sowieso, und dann hab ich kulturell auch meine Vorstellungen. Goethe und Schiller zum Beispiel, das ist mal klar, aber Shakespeare, Shakespeare ist ein Muss, ohne Shakespeare geht bei mir gar nichts, das ist der springende Punkt.
Einer aus der Runde fragt: Du Anna, sag mal, was machst du eigentlich so beruflich, ich meine, wovon lebst du?
Darauf sie: Anna- Conducta bitte, darauf lege ich Wert, aber wenn du es schon so genau wissen willst, kann ich es ja sagen, ich bin ausgebildete Mitarbeiterin für Tierärztliche Hilfe mZ.
Er: Da bist du wohl so‘ne Art Hundeflüsterin?
Sie: Ja, so könnte man das nennen, aber nicht nur für Hunde, sondern für alle Tiere, selbst für Anacondas und Krokodile.
Er: Aha, und was heißt mZ?
Sie: Mit Zertifikat, sowas weiß man doch.
Er: A ja. Und was machst du da so genau?
Sie: Ich mache Urlaubsbetreuung für Haustiere, die die Leute nicht mitnehmen wollen oder können.
Er: Das sind wohl Gutbetuchte, oder?
Sie: Ja, das kann man wohl sagen, ich wohne dann ja bei denen
in den Häusern und kann das beurteilen.
Er: Lassen die dich denn überall rein?
Sie: Ja.
Er: Dann lebst du ja wie ne Zigeunerin, mal hier, mal da, oder?
Sie: Ja, fast überall in Deutschland, ich hab gar keine eigene Wohnung. Irgendwie will ich ja sesshaft werden, aber es gefällt mir nur in Mecklenburg, irgendson altes Forsthaus am See, das wärs. Aber andererseits ist das ja das Land mit dem niedrigsten Bruttosozialprodukt, da hätte ich wohl kaum Kunden, nehm ich an.
Er: Ja, alles Gute liegt nie beieinander. Und dann bräuchtest du sicher auch einen Partner.
Sie: Na ja, das nehme ich ja jetzt zielstrebig in Angriff. Wir haben ja erst ein Seminar von fünf hinter uns. In einer halben Stunde ist übrigens Abschlussrunde. Ich brauche jetzt aber erstmal n Auto.
Er: Was, du hast kein Auto? Kannst du eigentlich fahren, ich meine Führerschein und so?
Sie: Nee, muss ich auch noch machen. Mein Mann hatte ja einen, aber auch kein Auto.
Jetzt stellt sich heraus, dass Anna- Conducta einen Hund hat, ein großes schwarzes Tier mit graubraunen Einsprengseln an den Lefzen, es liegt seitlich flach unter dem Tisch, angeleint und etwa einen Meter von ihr entfernt in Lauer- bzw. Halbschlafstellung.
Einer aus der Runde fragt, wie der Hund heißt.
Sie: Das ist eine Hündin, sie heißt Tessa, ein Mischling aus Schäfer- und Schweizer Sennhund, eine Sie.
Tessa ist lang und schlank, ihr Fell ist struppig, offenbar profitiert sie nicht von der Profession ihres Frauchens, aber Schuster haben ja immer die schlechtesten Schuhe.
Er: Und wie reagieren deine tierischen Kunden auf Tessa?
Sie: Tessa hat immer Angst, die ist sozusagen gar nicht da.
Er: A, das ist ja praktisch.
Sie: Ja, Tessa ist halt meine Beschützerin, rede ich mir jedenfalls ein. Aber jetzt müssen wir, die Abschlussrunde ruft. Ich glaube, von unserem ersten Treffen hab ich ne Menge mitgenommen.