Ein Waldmensch

Bild von W.Haller
Bibliothek

Wir wohnen dicht am Wald, der inzwischen zum Refugium von Hundeführer-, Radfahrer-, Reiter-, Jogger- und WalkerInnen geworden ist, und zu den letzteren gehören seit einiger Zeit auch wir mit ziemlicher Regelmäßigkeit. Wir laufen schweigend und im Abstand von einigen hundert Metern immer dieselben fünf Kilometer in etwa vierzig Minuten, und dennoch entgehen uns dabei Veilchen, Buschwindröschen und Scharbockskraut am Wegrand ebenso wenig, wie das tiefe Grunzen des Kolkraben, das Gekrächz des Eichelhähers oder die im Zeitlupentempo durch Gebüsche auf und ab hüpfenden Schneeherz - Hinterteile aufgeschreckter Rehe.
Ganz anders ist das bei den Kompanien älterer Damen, die laut schwätzend dahinstöckeln, die man noch lange hört und riecht, und denen man nicht unbedingt begegnen muss.
Nach fünf Minuten nähern wir uns der Ärztesiedlung des großen Waldkrankenhauses, wir merken es zuerst an dem ohrenbetäubenden Gekreisch der in großen Volieren gehaltenen Amazonas- Schreivögel und dann an den Häusern selbst. Da gibt es großzügig renovierte Gründerzeitpaläste mit riesigen Kaminholzstapeln, dort eine Kubus- Stadtvilla zwischen Kiefern und Rhododendron-Gebüschen und jetzt zwei direkt gegenüber spiegelbildlich angelegte Designer-Landhäuser mit Mitteldurchgang und gemeinsamem Außensitz, dessen Dekorationen jahreszeitgemäß wechseln, zum Beispiel einem bunten und mit verheißungsvollen Paketen beladenem Rentierschlitten im Winter und echten Strandkörben im Sommer. Die Häuser aus dunklen Holzbalken, weißen Wänden, Glas und Edelstahl mit Dächern in vornehmem Schiefergrau atmen den „Stil der neuen Sachlichkeit“, und durch die gardinenlosen Riesenfens-ter wird eine wohltuend sparsame Möblierung sichtbar, unübersehbar auch der Flügel mit aufgeschlagenen Notenblättern und blitzblank poliertem Messingkandelaber. All das verströmt auf den ersten Blick die Anmutung von Gediegenheit und Bildung, aber bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass hier irgendwas nicht stimmt, dass es für uns Vorübergehende arrangiert und drapiert wurde, und dass hier vermutlich niemals wirklich Klavier gespielt wird. Danach geht es zunächst um einige Ecken und schließlich über eine lange schnurgrade Waldschneise auf den Sonnenhügel zur ersten kleinen Atempause mit ein paar Lockerungsübungen.
Und dann kommt sie, die unvermeidliche Begegnung: Seit Monaten treffen wir ihn, meistens montags, mittwochs und freitags, immer etwa um die gleiche Zeit und immer an der gleichen Stelle, immer. Da wir ab und zu nicht kommen, kann man davon ausgehen, dass er hundertprozentig zuverlässig ist und täglich diesen Weg macht, außer samstags und sonntags, da sahen wir ihn nie.
Die ersten Male versuchten wir, seinem Blick zu begegnen, aber er sah entweder nach unten oder auf die andere Seite und zeigte keine Regung. Später versuchten wir es mit Grüßen und freundlichem Lächeln, den Zeichen für Wiedererkennung und harmlose Verschwörung, aber auch das blieb erfolglos. Na gut, dachten wir, dann eben nicht, und nahmen uns vor, ihm sein Verhalten nicht übelzunehmen, denn schließlich grüßt hier fast niemand, ich meine: nicht mal zurück. Sein Alter ist schwer zu schätzen, alles zwischen 65 und 75 ist möglich. Die etwas untersetzte Gestalt bewegt sich kontinuierlich schrägelnd und schaukelnd durch den Wald, alles an ihm hängt, die weißen Haare, der weiße Vollbart, die gramvolle Unterlippe und die rundlichen Schultern ebenso, wie seine kurzen Arme, die bei jedem Schritt schlenkernde Aktentasche und die blaugrauen Arbeitshosen. Sein diffuser Blick drückt mit dem ganz von Barthaar zugewachsenen Gesicht unumkehrbare Trauer und Entrücktheit aus, als hätte er abgeschlossen mit der Welt.
Einige Male hatte er statt der Tasche, die sich seit Jahren in Auflösung befindet, einen ausgefransten hellen Stoffbeutel, der schon von weitem durch seine ausladenden Pendelbewegungen
auffiel.
Oft haben wir uns gefragt, wohin er wohl geht, ob er ein Ziel hat und eventuell noch arbeitet, und inzwischen wissen wir, dass er in der Pathologie des Waldkrankenhauses der „Mann für alles Mögliche“ und Wächter all derer ist, die uns ein Stück voraus sind und in ihren eiskalten Schubfächern auf ihre Entlassung warten.

2012

Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: