In der Nacht zum Ostersonntag ist es passiert. Weil der Zoowärter Karl während der Abendfütterung der Tiere mit seinen Gedanken bei seiner Familie war. Seine Frau und seine beiden Töchter hatten schon seit Tagen Urlaub und warteten zuhause auf ihn. Da hat er es wohl einfach vergessen. „Ehrlich“, würde er später gegenüber dem Zoodirektor beteuern, „so etwas ist mir noch nie passiert.“ „Das Gehege der Wallabys nicht zu verriegeln. Was ist da bloß mit mir los gewesen“?
Wallabys, das sind kleine Kängurus. Die kommen eigentlich aus dem fernen Australien. Aber auch hierzulande sieht man sie manchmal in einem Zoo. Und im Zoo vom Zoowärter Karl gab es ein besonders mutiges und dazu noch sehr schlaues Wallaby. Diesem Wallaby gelang es, die unverschlossene Tür mit seinen Krallen zu öffnen und einfach so aus dem Zoo zu hüpfen. Ihr wisst es wahrscheinlich schon, aber Wallabys können riesige Sätze machen. Sprünge über 2 Meter hoch und 5 Meter weit sind eine Leichtigkeit für so ein Känguru. Da ist das Wallaby halt ausgebrochen aus dem Zoo. Und zwar mit einem megagroßen Satz über die Mauer.
Wäre man am frühen Ostersonntag schon wach gewesen, so hätte man dieses Wallaby von Busch zu Busch springen sehen. Aber die Erwachsenen und auch die Kinder schliefen ja noch. Trotzdem war es ein besonderer Morgen. Eben der Ostersonntag. Der Tag der Eiersuche. Das wusste das Wallaby aber nicht und überhaupt, Ostern kannte es ja gar nicht. Das Wallaby hatte auch andere Sorgen. Es musste fürchterlich dringend aufs Klo.
Und da es aus dem australischen Busch kam, suchte das Wallaby nach einem schönen struppigen Busch zum Pinkeln. Schließlich war es ja nicht ganz so arg klein, immerhin fast einen Meter groß. Und es musste ja keiner zugucken wie es pinkelte hinter dem Busch. Da gab es nur ein Problem für das Wallaby. Hinter jedem Busch, an dem es vorbeikam in dieser Nacht, lag mindestens ein bunt bemaltes Ei, manchmal waren es sogar mehrere Eier. Das Wallaby kam wie gesagt aus Australien und dort sind alle für die Ureinwohner heiligen, also besonders bedeutenden Orte, bunt bemalt. Eher natürlich Felsen als Eier. Deswegen nennt man das in Australien ja auch Felsenmalerei. Aber eben in etwa so eine Malerei wie auf diesen Eiern hinter den Büschen. Bemalt mit Kreisen, Tieren und in verschiedenen Farben. Also traute sich das Wallaby nicht, diese Eier nass zu machen. Es fand aber, dass man die Eier alle an einen Ort bringen sollte, wo man sie besser bewachen und beschützen kann. Damit sie nicht kaputt gingen. Wenn sie den Menschen hier so wichtig waren. Also packte sich das Wallaby immer mehr Eier in seinen Beutel. Denn natürlich hat auch ein Wallaby einen solchen Brustbeutel wie alle Kängurus. Normalerweise sitzen da die kleinen Kängurus drin, aber im Fall von unserem Wallaby waren es jetzt halt ganz viele bunte Eier.
Natürlich stimmt es auch nicht ganz, dass in dieser Nacht niemand unterwegs war. Nur eben keine Menschen. Und so traf das Wallaby plötzlich auf ein paar Osterhasen, die eifrig ihrer Arbeit nachgingen. Ganz außer Puste wirkten sie, wie sie hin und hereilten und für die Kinder der Stadt die Eier versteckten. Die Osterhasen waren sehr aufgeregt als sie das Wallaby sahen und fragten: „Sag mal, woher hast Du denn das tolle Kostüm? So eine Verkleidung wollen wir auch haben. Mit einem so praktischen Beutel für die Ostereier. Die Körbe, die wir auf unserem Rücken tragen, sind ja soo unbequem.“
Leider verstand das Wallaby sie aber nicht. Es kam ja aus Australien und dort spricht man Englisch. Das merkten dann auch die Osterhasen, denn das Wallaby sang immerzu:
„I’m a little Wallaby, desperately I need to pee…“
Zum Glück kam da der uralte Osterhase Eberhard hinzu. Ein sehr weiser alter Hase. „Ich habe ja einen Großonkel in Australien“, erklärte er. „In Australien gibt es übrigens ganz viele Hasen. So unglaublich viele, dass sie sogar einen Hasenzaun wegen uns quer durch das ganze Land gebaut haben. Damit wir auf unserer Hälfte des Landes bleiben.“ Er wollte noch hinzufügen: „Wem die andere Hälfte gehört, weiß ich nicht“, da wurde er aber auch schon ungeduldig von den anderen Osterhasen unterbrochen: „Ach Eberhard, nicht schon wieder diese Geschichte. Sag uns doch bitte was dieses Lied bedeutet.“
Der Vorteil war nämlich, dass Eberhard, der um die ganze Welt gereist war und auch seinen Großonkel in Australien besucht hatte, ein wenig Englisch sprach. Jedenfalls genug, um das Wallaby zu verstehen.
Mit Hilfe von Eberhards Übersetzung fanden die Osterhasen heraus, dass das Wallaby ganz dringend auf Klo musste. Und nur deshalb die ganzen Eier aufgesammelt hatte. In diesem Moment begriffen die Osterhasen, dass das ihre eigenen Eier da vorn im Beutel des Wallabys waren.
„Oh weh, die ganze Arbeit also nochmal“, stöhnten sie. "Die Kinder sollen doch morgen von uns Osterhasen nicht enttäuscht werden und beim Ostereiersuchen so richtig Beute machen.“
Als das Wallaby verstand, warum die Osterhasen so traurig waren und als es endlich mal pinkeln durfte auf dem Klo in der Osterwerkstatt der Hasen, da sagte es ganz gechillt: „No Problem“. Und mit riesigen Sätzen hüpfte es noch einmal von Busch zu Busch. Alle Eier aus seinem Beutel legte es in Rekordzeit wieder zurück an ihren ursprünglichen Platz. Und so war die Arbeit noch rechtzeitig vor dem Osterfest getan. Die Osterhasen umarmten das kleine Wallaby. Und weil das Wallaby auch gut malen konnte und es richtig gut im Ostereierverteilen war, beschloss es, für immer bei seinen neuen Freunden zu bleiben. Die Osterhasen konnten ja wirklich seine Hilfe gebrauchen. Der Zoowärter Karl würde es bestimmt verschmerzen, wenn es nicht zurückkäme. Der Zoowärter hatte ja schließlich seine Familie.
Also hört zu: Wenn ihr in Zukunft vielleicht einmal an einem Osterfest einen etwas größeren Osterhasen vorbeihüpfen seht, dann ist es mit Sicherheit das kleine Wallaby aus Australien.
Das Wallaby - eine Ostergeschichte
von Julia Körner
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