Das Telefon läutet. „Habe ich denn heute überhaupt keine ruhige Minute mehr?“, schimpft Meister A. halblaut vor sich hin, „wie soll ich da mit meinen Arbeiten fertig werden?!“ Nachdem er sich mühsam über die Treppe in die untere Etage begeben hat, hebt er ab.
„Du wirst mich verwünschen, aber jetzt ist es mir schon wieder passiert, aber diesmal gründlich“, dringt es lautstark aus dem Hörer.
Meister A. hat die Stimme des Anrufers sofort erkannt, es handelt sich um einen früheren Kollegen, welcher in praktischen Dingen seit jeher dermaßen ungeschickt ist, dass man in Anbetracht seiner beiden linken Hände schon fast von einer Begabung sprechen könnte.
„Ich kann wohl annehmen, du hast schon wieder das erst kürzlich reparierte Kabel deiner Stichsäge geschändet“, vermutet Meister A..
Der Anrufer bestätigt den Verdacht: „Hm, na ja, es hatte sich verfangen, dieses Mal besteht es sogar aus drei Teilen …“
Der Angerufene unterbricht: „Komm vorbei, ich bin ohnedies gerade in der Werkstatt beschäftigt, dann ersetze ich dir die Zuleitung.“
„Ich danke dir“, erwidert der Kollege, „aber weißt du, ich hätte da noch ein Problem, aber davon berichte ich dir später, wenn ich bei dir bin – vorausgesetzt, dass ich dann noch den Mut habe, darüber zu reden. Also bis dann!“
Meister A. braucht nicht lange zu warten, bis der Gong in der Diele die Ankunft des Hilfesuchenden meldet. Nach einer kurzen gegenseitigen Begrüßung begeben sich die beiden älteren Herren in die Werkstatt. Es dauert keine halbe Stunde, bis die Stichsäge wieder läuft.
„Vielen, vielen Dank … aber … wie schon angedeutet … na ja, jetzt trau' ich mich mal … also ich trage da noch ein Problem mit mir herum … also kurz gesagt, ich muss mich bei dir entschuldigen“, stammelt der Stichsägenschänder verlegen.
Meister A. lacht: „Ach geh', ich weiß doch, dass dein Schutzpatron der Hl. Destructivus ist und ich helfe dir doch immer wieder gerne.“
Sein Gegenüber versucht zu erklären: „Du hast mich missverstanden, nicht wegen der Arbeit, welche ich dir durch meine Ungeschicklichkeit aufgebürdet habe, will ich mich entschuldigen, sondern für mein Verhalten damals, also seinerzeit während dieser äußerst peinlichen und unangenehmen Dienstbesprechung – du weißt schon. Ehrlich, damals, unmittelbar danach, schämte ich mich für mein Verhalten dir gegenüber … nur, wenn man jünger ist, steckt man Unangenehmes einfach leichter weg. Aber inzwischen plagen mich – älter und sensibler geworden – in schlaflosen Nächten diese Geister der Vergangenheit. 'Tempora mutantur et nos mutamur in illis', wie der Grieche zu sagen pflegt – natürlich nur, wenn er vorher Latein gelernt hat. Wenn ich stundenlang schlaflos die Decke anstarre, dann sehe ich dich wieder vor mir, wie du, weil du aufrecht und vielleicht allzu ehrlich gewesen warst, während der Konferenz, deren einziger Tagungspunkt dieses leidige, traurige Thema war, von vielen argwöhnisch beäugt wurdest, hattest du es doch sogar im Vorfelde der Sitzung als einziger von uns allen gewagt, der Chefetage eine Vernachlässigung der Fürsorgepflicht vorzuwerfen. Ich wusste, wie manch anderer, dass du prinzipiell im Recht warst, aber ebenso wie die wenigen, welche genauso dachten wie du, war ich zu bequem – nein ... eigentlich zu feige - gewesen, um dir beizustehen. Wenigstens mir, als dem damals dienstältesten Kollegen, wäre diese Verpflichtung zuzumuten gewesen.“
„Ach“, warf Meister A. ein, „das ist doch alles schon so lange her. Lass' dir deswegen keine weiteren grauen Haare mehr wachsen – wir haben ohnedies bereits genügend davon. Freilich war ich damals schon etwas enttäuscht und ich fühlte mich unverstanden und alleine gelassen. Aber nun, wenn dir damit geholfen ist, nehme ich deine zwar sehr verspätete aber ebenso unnötige Entschuldigung gerne an. Ich weiß doch, dass du ein feiner Kerl bist.“
„Nun, dann war das beschädigte Kabel wenigstens dazu gut, dass ich den Mut gefunden hatte, mich mit dir über mein uraltes Problem auszusprechen“, gab der Kollege zur Antwort, während ein dankbares, zufriedenes Lächeln sich – fast unauffällig - seiner Mundwinkel bemächtigte. Er fuhr fort: „ Zum Glück hat mich die ganzen Jahre über die Erinnerung daran getröstet, wie es dir damals gelungen war, dir selbst beizustehen. Ich sehe die Situation so vor mir, als wäre sie erst kürzlich gewesen: Du sitzt im Konferenzraum unter uns Kollegen und meldest dich die ganze Zeit nicht zu Wort. Du wirkst leicht angespannt, sehr konzentriert, fertigst immer wieder kurze Notizen an. Deine Meinung – allgemein bekannt, von den meisten missverstanden und deshalb nicht geschätzt – hängt irgendwie drohend im Raume. Aber du blickst mit nicht besonders gut gespielter Gelassenheit in die Runde. Plötzlich fordert man dich auf, deine Sicht der Dinge kundzutun, was dich anscheinend gar nicht berührt. Du stellst dich quasi taub. 'Na, sag' schon … komm schon … du hast dir doch auch Gedanken gemacht … mach' schon ... lass' uns doch vernehmen, was du von der Situation hältst' , so und ähnlich beginnt man zu sticheln, versuchend, dich aus der Reserve zu locken, um dann gegebenenfalls im Rudel verbal über dich herfallen zu können. Offensichtlich wird dir dieser unkollegiale Druck zunehmend unerträglicher und so entschließt du dich tatsächlich dazu, etwas zu sagen. Du erhebst dich von deinem Platze, um den Protokollführer sehen zu können und wendest dich an ihn: 'Gut, nachdem man mich gleichsam dazu drängt, bin ich bereit, eine Erklärung abzugeben. Ich bitte darum, dass diese wörtlich in das Protokoll aufgenommen wird.' Eine eisige Stille legt sich über das Konferenzzimmer, aller Augen richten sich auf dich. Ich spüre eine unbestimmte Angst vor dem, was jetzt passieren könnte, die Situation kann gefährlich werden, entgleisen, man hat dir Unrecht getan, auch ich habe dich irgendwie verraten, man hat versucht, dich in die Enge zu treiben, vielleicht zu einer unüberlegten Aussage zu verleiten …
Ja, und dann, nach einer kurzen Kunstpause, sagst du freundlich aber bestimmt: 'Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich es mir schuldig bin, nur dann zu sprechen, wenn ich mag – und jetzt mag ich gerade nicht.'“
Meister A. schmunzelt anerkennend: „Du hast ein ausnehmend treues Gedächtnis, mein Guter.“
Nach einer kurzen Pause ergänzt er nachdenklich: „Es muss eben nicht
unbedingt 'nichtssagend' sein, wenn jemand nichts sagt ...“
Meister A. - wer kann das sein? Hinter „Meister A.“ könnte ich mich verbergen – unter dem abgekürzten Pseudonym von „Meister Alfred“. Es könnte aber auch „Meister Allgemein“ gemeint sein, also jeder, jede, jedes ... also „alle“ oder „niemand Besonderer“. Jedenfalls soll es hier – möglicherweise um eine Folge? - von kleinen Episoden, Anekdoten, Denkanstößen, Lebensweisheiten … gehen, stets zumindest mit einem wahren Kern, immer mit dem gleichen Titel, aber „fein säuberlich durchnummerieret“, so wie hier bei Nr. 28, entstanden am 01.04.2020.