Fortsetzung v. 05. Dez. 2016; Im Dickicht der Zeichen; Nora Meranes 1. Fall, ein Krimi

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von Annelie Kelch

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„Erzählen Sie, Herr Falkner“, sagte ich. „Aber bitte die ganze Wahrheit.“
Falkner richtete sich ein wenig auf und sank in der nächsten Sekunde mit einem Seufzer zurück aufs Kissen. Ich verstellte das Kopfteil des Bettes, damit er es während seiner 'Beichte' einigermaßen bequem hatte.
„Brenda war vierzehn, als ich sie mit Leander auf dem Trockenboden in einer eindeutigen Situation erwischt habe“, begann Johann Falkner stockend. „Meine Frau befand sich in jenen Tagen zur Kur an der Ostsee; sie leidet seit ihrer frühsten Kindheit an einer Stoffwechselerkrankung, die mit rheumatischen Beschwerden einhergeht, und ist selten völlig schmerzfrei.

Brenda und Leander lagen auf einer alten Matratze, die von einem der Hausbewohner, aus welchen Gründen auch immer, dort hinaufgeschleppt wurde, und hatten Sex. Sie bemerkten mich zuerst nicht. Ich wollte mich nach einer Weile davonschleichen, stolperte jedoch über einen Ziegelstein, der auf dem Estrich neben dem Pfeiler lag, hinter dem ich mich verborgen hatte. Die beiden schreckten hoch, und Brenda begann zu schreien. Leander presste ihr seine Hand auf den Mund und zog ein Taschenmesser aus seiner Hose, die neben der Matratze lag. Er hielt es wie eine Pistole auf mich gerichtet und sagte: 'Schleich dich, alter Spanner, sonst stech' ich dich ab.' Ich hatte den Jungen noch nie in diesem Ton reden hören. Er war sonst immer sehr höflich; meine Marga war ganz begeistert von den beiden jungen Leuten, die damals ja eigentlich noch reine Kinder waren.
Leander fuhr am nächsten Tag nach Hause. Am Abend darauf traf ich Brenda im Keller. Ich wollte mir ein Stück Kasseler für den nächsten Tag aus der Gefriertruhe holen. Brenda schloss gerade die Tür zum Verschlag, der zur Wohnung ihrer Mutter gehörte, ab; sie hielt zwei Gläser mit Marmelade an sich gepresst. Frau Bohlau besaß einen kleinen Schrebergarten, worin Erdbeeren wuchsen, die sie am Ende des Sommers einkochte. Sie hat auch uns oft genug davon ….“
Johann Falkner versagte die Stimme – keineswegs aus Heiserkeit, wie man nach dem Eingriff, der unter Narkose vorgenommen wurde, hätte vermuten können, sondern eher wie aufgrund eines erlittenen Traumas.
Ich nahm seine Hand. „Nur Mut, Herr Falkner“, versuchte ich den alten Mann zu beruhigen. „Sie werden sich besser fühlen, sobald Sie mir alles erzählt haben. Wir beratschlagen dann gemeinsam, wie es weitergehen soll.“

„Ich will nicht mehr weiterleben, Frau Merane. Ich schäme mich so. Wie könnte ich meiner Frau jemals wieder in die Augen schauen - nach allem, was damals geschehen ist. - Sie suchen einen Mörder. Und wenn Sie den gefunden haben, und ich vermute, dass Leander Brenda getötet hat, dann werde auch ich vor Gericht müssen. Und das überlebe ich nicht.“

„Wir wissen nicht, ob Leander der Täter war, Herr Falkner. „Wir sind zwar durch die Befragung Ihrer Frau heute Abend ein gutes Stück vorangekommen, könnten auch einen vagen Verdacht äußern; es kommen indes noch andere Personen als Täter in Frage.“
„Umgebracht habe ich Brenda nicht“, wehrte Falkner entschieden ab. „Jedenfalls nicht im physischem Sinne. Damals, vor zwanzig Jahren, habe ich sie im psychischen Sinne getötet, ihre junge Seele verletzt. Mein Gott, was habe ich diesem Kind bloß angetan. Das wird Marga mir niemals verzeihen.“
„Was haben Sie Brenda angetan, Herr Falkner? Bitte sprechen Sie weiter.“
„Ich habe gedroht, ihrer Mutter alles zu erzählen, wenn Sie mir nicht zu Willen ist.“
„Sie wollten mit Brenda Bohlau schlafen.“
Falkner nickte. „Ich habe die Situation, in der sich das Mädchen befand, schamlos ausgenutzt.“
„Wie hat Brenda sich verhalten, nachdem Sie ihr gedroht haben?“
„Sie hat mich lediglich traurig angesehen und genickt. Ihr Gesicht damals habe ich all die Jahre hindurch nicht vergessen können. Es folgt mir, wohin ich mich auch wende.“
„Wie oft haben Sie den Beischlaf mit Brenda Bohlau vollzogen?“, fragte ich.
„Sie besuchte mich vier bis fünf Mal in unserer Wohnung – dann kam meine Frau von der Kur zurück.“
„Sie hatten danach keinen sexuellen Verkehr mehr mit Brenda?“
„Nein“, sagte Falkner. „Nie wieder. Ich habe mich furchtbar geschämt und bin dem Mädel aus dem Weg gegangen. Habe sie kaum noch gesehen. Die Sache müsste jetzt länger als zwanzig Jahre her sein."
„Wie verhielt sich Brenda während der Zeit, als Sie mit ihr schliefen?“
„Sie war sehr ruhig, in sich gekehrt, wie in Trance, als habe sie die ausweglose Lage, in der sie sich befand, gar nicht realisiert; hat alles mit sich geschehen und nichts an sich herankommen lassen, wie eine Kuh das Gras frißt, das arme Mädchen. Sie machte auf mich den Eindruck, als habe sie mit der Welt abgeschlossen. Ich war heilfroh, dass sie sich nicht das Leben genommen hat. Aber ich war wie besessen, hatte mich in die Kleine verliebt, ich alter Trottel.“
„Herr Falkner“, sagte ich, „ich kenne jemanden bei der Polizei, mit dem ich diesen Tatbestand und das weitere Vorgehen besprechen möchte ...“
„... mit Ihrem Kollegen, der neulich bei uns war und fast so ausschaut wie dieser Leander?“, fragte Falkner.
„Nein, ich möchte die Angelegenheit mit meinem Chef in Hellerburg besprechen, der größere Erfahrung mit diesen Sachverhalten hat als Marc Keppler und ich. Ich lege Ihren Fall in gute Hände. Ruhen Sie sich jetzt aus. Das war alles ein bisschen viel für heute.“
„Danke, Frau Merane. Ich fühle mich jetzt tatsächlich etwas besser. Und erzählen Sie bitte Marga nichts von meiner furchtbaren Entgleisung.“
Johann Falkner nahm meine Hand und küsste sie.
Ich stellte das Kopfteil runter, strich ihm die wirren Haare aus dem Gesicht und sagte: „Bis morgen, Johann. Schlafen Sie gut.“ Dann verließ ich das Zimmer.

Frau Falkner saß auf dem Flur und sah mir erwartungsvoll entgegen.
„Was hat er gesagt, Frau Merane?“, fragte sie.
„Lassen Sie Ihren Mann erst einmal damit in Ruhe, Frau Falkner. So ist es für alle das Beste. Ihr Mann ist krank und muss sich schonen. Seien Sie lieb zu ihm.“
Marga Falkner war aufgeregt und schien verwirrt. Ich führte sie ins Zimmer zurück und half ihr beim Auskleiden. Herr Falkner hatte sich auf die Seite gedreht, mit dem Gesicht zum Fenster. Möglicherweise schlief er bereits. Die Laternen ließen die Bäume im gegenüberliegenden Park schemenhaft aus dem Dunkel der Nacht treten. Durch das geöffnete Fenster drang ganz zart und hell der Ruf einer Waldohreule. Ich musste an Brenda denken und

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