Die Musen, diese göttlichen Schutzgeister der Dichter, die in der Antike so oft angerufen wurden, galten gemeinhin als die Töchter des Zeus und der Mnenosyne; dabei ist Zeus esoterisch gesehen der kosmische Allgeist und Mnenosyne (Erinnerungsvermögen) das „Weltgedächtnis“ oder – mit einem indischen Ausdruck – die „Akasha-Chronik“. „Akasha“ bedeutet so viel wie „Äther“. Wir können uns die Akasha-Chronik vorstellen als einen unendlich dünnen feinstofflichen Film, aus der Substanz des Weltenäthers gewoben, der alle Eindrücke aus der physischen Welt empfängt und für alle Ewigkeit in sich aufspeichert. Alle Taten, die je begangen wurden, alle Gedanken, die je gedacht wurden, hinterlassen einen solchen bleibenden Eindruck in der Akasha-Chronik. Hellsichtigen Menschen, nicht Medien, sondern geschulten Eingeweihten, ist es möglich, in der Chiffrenschrift der Akasha-Chronik die Geschehnisse vergangener Perioden zu erkennen.
Alle Dichter, Seher, Propheten und Eingeweihten schöpfen aus der Kraft des Weltgedächtnisses, der Welterinnerung, personifiziert als Mnenosyne, die Mutter der Musen. Denn wie sonst könnten die Dichter und Sänger die Taten der Vergangenheit verherrlichen, wenn sie diese nicht in plastischen Imaginationen vor ihrem geistigen Auge sähen? Und vergessen wir nicht: Die Akasha-Chronik, die oben im Äther schwebt, ist ja kein „Buch“ im üblichen Sinne, schon gar kein geschriebener Text, sondern ein reines Bilder-Gedächtnis. Aus der Ebene der Akasha-Chronik empfängt der Dichtende seine zentralen Inspirationen, die er unter Mithilfe der Musen in machtvolle Sprachbilder umwandelt. So wirken die Musen als Mittler: sie tragen die Bild-Inhalte des Weltgedächtnisses in das Bewusstsein des Dichters hinein; und dort werden diese Inhalte in Gedankenformen gekleidet, damit sie an andere Menschen (in metrisch gebundener Form) weitergegeben werden können.
In diesem Sinne wirkt der Dichter als Brücke zur Geistigen Welt; seine eigentliche Aufgabe ist Brückenbau. Die Musen, als die ausführenden Organe des Weltgedächtnisses (Töchter der Mnenosyne), üben bei diesem Amt geistigen Brückenbaus eine wichtige Funktion als Helfer, Mittler und Überbringer aus. In der griechischen Antike dachte man sich die Musen immer in Gruppen auftreten: da gab es die Pierischen Musen, die in Pierien östlich des Olymp wohnten, nahe den Göttern; dann die Boiotischen Musen am Berge Helikon in Böotien; dann als dritte Gruppe die Delphischen Musen, die am Parnass bei Delphoi lebten, in der Nähe der berühmten Orakelstätte. Auf ihren Wohnplätzen, geheiligten und magischen Orten, oft an Quellen oder Bächen gelegen – die Musen tragen auch etwas Quellnymphenhaftes an sich –, sangen und tanzten sie, häufig angeführt von ihrem göttlichen Schutzherrn Apollon Musagetes ( = der Musenführer). Apollon bedeutet den geistig-göttlichen Sonnen-Logos. Er war zugleich Besitzer der Lyra und insofern Schutzpatron der Dichter und Leierspieler.
So unterstand die Dichtkunst in ältester Zeit waltenden Göttermächten. Ursprünglich nur auf drei beschränkt, treten die Musen schon bei Homer als neun Schwestern auf, wobei jede einzelne über eine bestimmte künstlerische Funktion zu wachen hatte und mit einem entsprechenden Symbol verknüpft wurde. Man kann die neun Musen durchaus als Stufen eines Einweihungsweges verstehen, an dessen Ende die Vereinigung mit dem Weltengedächtnis steht, das Lesen in der Akasha-Chronik. Die Anrufung der Musen bei Beginn einer künstlerischen Arbeit war seit Homer ein weithin gepflegter Brauch, der später auch an Stätten geistigen Lebens, wie Schulen, Philosophenkreise, geübt wurde. Die Namen der Musen und die ihnen zugeordneten Bereiche sind:
Erato Liebesdichtung
Euterpe Musik
Kalliope epische Dichtung
Kleio Geschichte
Melpomene Tragödie
Polyhymnia feierlicher Gesang
Terpsichore Tanz
Thaleia Komödie
Urania Astronomie
Ein mythisches Wesen, das mit den Musen in engem Zusammenhang steht, ist der Pegasos, jenes wundersame Flügelpferd, auf dem Bellerophon einst zu den Göttern hinaufreiten wollte. Vom Pegasos wird berichtet, dass durch seinen Hufschlag zwei Quellen entstanden seien: die eine heißt Hippokrene und fließt in Böotien; die andere nennt man Peirene, in der Nähe von Korinth gelegen – beides Stätten, wo die Musen sich zu versammeln pflegten, als deren heiliges Pferd der Pegasos galt. Der Pegasos ist es auch, der den Dichter-Eingeweihten zu den geistig-göttlichen Sphären emporträgt – in jene Höhen des Geistes, wo allein Zeus und Mnenosyne walten, der kosmische Allgeist und das „Weltgedächtnis“.
Dies ist eine kleine Leseprobe aus meinem 2017 veröffentlichten Buch "Die Weisheit der Dichter" (siehe Quellenangabe unten).