Es klingelte. Einmal zweimal viele Male hintereinander.
Ein Lächeln huscht Astrid Meier übers Gesicht. Wenn es bei ihr an einem Freitag nachmittag dauer klingelt, ahnt sie schon wer davor steht.
Und richtig.
Kaum hat sie die Tür geöffnet, stürmt ihre Enkelin herein. Lena ist sechs. Und ziemlich neugierig wie ihre Eltern finden.
„Hallo Oma“, sagt sie jetzt
„Hallo Lena“, schmunzelt Astrid Meier.
„Duhu?!“, Lena legt den Kopf ein wenig schief. „Was machst Du?“
„Ich wollte es mir gerade ein bisschen gemütlich machen zum Wochenende“. Oma deutet auf eine Umzugskiste im Flur.
„Mit der Kiste???“
Oma lacht: „Nicht direkt, aber mit dem, was in der Kiste ist. Wenn Du möchtest, kannst Du mir auspacken helfen.“
„Au ja“, Lena hüpft vor Begeisterung.
„Das ist schön. Komm, wir tragen sie erst mal ins Wohnzimmer.“
„Boah, ist die schwer“, ächzt Lena, als sie die Kiste schließlich vor der Kommode abstellen.
„Ist auch ne Menge drin. Über die Jahre hab ich immer wieder etwas zu meiner Adventstadt dazu gekauft.“
„Was für eine Stadt?“
„Ich nenne es meine Adventstadt. Weil ich alles immer zum ersten Advent aufbaue.“
„Ach so“, Lena nickt weise, „ist ja jetzt wieder. Mama backt dann immer Plätzchen.“
Oma öffnet die Kiste.
Lena beugt sich darüber: „Uuuuuuuui - soooooo viel!“
In Miniaturformat ist alles da, was zu einer richtigen Stadt gehört: Wohnhäuser, Einkaufsläden, Bäume, Straßenlaternen, Autos, Straßenbahn, Fahrräder, Kinder und Erwachsene, Bäume, Katzen, Hunde, Vögel, stimmungsvolle Beleuchtung, und sogar ein Weihnachtsmarkt mit Buden, einem Tannenbaum und einem Karussell.
Nacheinander bauen die beiden alles auf der Kommode auf.
Oma schaut zufrieden: „Jetzt fehlt nur noch der Stall mit Maria und Joseph, dem Jesuskind in der Futterkrippe und Esel und Ochse.“
„Da ist aber kein Platz mehr“, meint Lena skeptisch.
„Für die Hauptpersonen kein Platz? Hm, dann müssen wir uns was überlegen.“
„Ich hab eine Idee“, ruft Lena. „Wir tun die ganz in die Mitte. Dann müssen wir alles nur weiter nach außen schieben.“
Gesagt, getan.
Nur noch zwei Sachen sind in der Kiste. Eine Spieluhr und Joseph.
Lena nimmt die Spieluhr und stellt sie vorsichtig neben Maria.
„Was spielt die?“
„Drück mal drauf“
Die Spieluhr beginnt und Lena lauscht:
Lied: Wie ein Lachen wie ein Vogelflug steigt ein Lied zum Himmel auf. Und ich staune, mir wird leicht. Gottes Flügel tragen weit.
„Das ist schön“, findet Lena und greift sich die letzte Figur.
„Der kommt hierher“, sagt sie und zeigt auf den Platz neben der Krippe.
„Gut“, sagt Oma, „aber stell ihn auf den Kopf“
„Auf den Kopf?“ kichert Lena. „Wieso auf den Kopf??“
„Weil ich finde, dass im Advent die Welt wie auf den Kopf gestellt wird“
„Hä???“ macht Lena und zieht die Stirn kraus. „die Welt auf dem Kopf geht doch gar nicht. Die ist doch rund!“
„Ja, die Erdkugel ist rund“, lacht Oma. „Und das bleibt sie auch. Ich dachte eher an das, was das Sprichwort meint. Man sagt „die Welt steht auf dem Kopf“, wenn etwas völlig anders wird, als man dachte und erwartete. Wie im Advent eben.“
Lena wird neugierig. „Und was wurde anders?“
„Die Erwartungen der Menschen wurden ver - rückt, also an eine andere Stelle gerückt“
„Aber Jesus wurde doch geboren“
„Nur ganz anders, als alle erwartet hatten. Wenn Gott in der Welt ankommt, dann muss er aus einer Herrscherfamilie kommen und in einem Palast geboren werden, dachten alle.“
„Und das wurde anders …“, Lena schaut auf die Krippe mitten in der Adventstadt … „ganz anders“, stellt sie fest.
„Genau, völlig ver – rückt: Maria - ungewollt schwanger, statt Familienplanung zu machen.
Ver - rückt: eine Futterkrippe statt des Königsthron
Ver - rückt: ein kleines Kind als großer Gott
Ver - rückt: auf die Flucht müssen statt ein trautes Heim einzurichten.“
Lena fasst sich an den Kopf: „und das mitten drin!“
Oma nickt: „ganz anders ist das Jesuskind mitten unter uns angekommen. Das ist wirklich verrückt.“
Nachdenklich betrachten beide die aufgebaute Adventstadt, während sie die Spieluhr wieder laufen lassen.
Lied: Wie ein Lachen wie ein Vogelflug steigt ein Lied zum Himmel auf. Und ich staune, mir wird leicht. Gottes Flügel tragen weit.
„Werden wir eigentlich auch ver – rückt?“
„Wie meinst Du das?“ fragt Oma.
„Na, wenn alles anders wird, dann müssten doch eigentlich auch wir anders werden“, denkt Lena laut.
Oma nickt bedächtig.
„Da hast Du recht. Irgendwie schon.
Das kommt vielleicht darauf an, ob wir die alten Geschichten ernst nehmen. Und vor allem ihre Botschaft.“
„Dass man ver - rückt werden kann!“
„Genau: Dass Dinge sich ändern können. Dass Menschen sich ändern können. Dass Bedeutungen sich verschieben können.“
„Das wäre schön!“
Lena schaut verträumt in weite Ferne:
„Sich vertragen statt streiten
Ehrlich sein statt lügen
Teilen statt für sich behalten
Freundlich sein statt unfreundlich“
Oma ergänzt: „Lieben statt hassen,
Frieden statt Krieg
Händereichen statt Gewalt
Hilfsbereit sein statt auf sich bezogen“
Die beiden stehen noch lange und erzählen vom anders sein, vom ver – rückt werden.
Ihnen wird leicht ums Herz. Und sie schicken ihre Träume auf Advent-Gedanken-Flügeln hinaus in die Weite.
Es ist als beginnen an diesem Freitag nachmittag die Gedanken Gottes an Omas Kommode zu leuchten.