Grüne Jacken lügen nicht

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von Michael Dahm

Es war Heiligabend, so wie viele Heilige Abende davor, die ich allein verbrachte. Mein drei viertel leerer Freund Johnny Walker lächelte mich süffisant an, als wolle er sagen: Komm, lass uns besinnlich sein, alle Jahre wieder.
Zum Dank und weil ich immer auf seine Hilfe hoffen durfte, leerte ich ihn und stellte ihn zu seinen siebenundzwanzig anderen leeren Brüdern, die mir die Vorweihnachtszeit so angenehm gemacht hatten.
Wir alle hatten einen Plan, den ich schon die letzten Jahre verfolgte, aber dieses Jahr wollte ich ihn umsetzen. Warum auch nicht!
Mein verpfuschtes Leben war sowieso nicht mehr zu retten. Der Weihnachtsmann und alle seine Helfer hatten mich in den letzten Jahren hängen lassen und nicht ein einziger Elf hatte auch nur einen falschen Fuffziger für mich übrig.
Meine Exfrau und meine Kinder verschwendeten keinen Gedanken an mich, und wenn ich mal wieder besoffen in der Gosse lag, machten selbst die Straßenköter einen großen Bogen um mich, dabei hat doch jeder Penner einen, den er liebhaben darf. Nur ich …. ich hatte niemanden.
Darum wollte ich mir an diesem besonderen Abend auch ein ganz besonderes Geschenk machen. Ich wollte mir, mit Hilfe Johnnys, den Tod schenken.
Was für ein himmlisches Gefühl würde dieses Geschenk mir wohl bereiten? Alles Miese und Verdorbene würde dieses Geschenk auf einmal tilgen. Womöglich würde ich sogar selbst ein Weihnachtsengel werden.
Mit all diesen herrlichen Gedanken packte ich mir Johnnys neunundzwanzigsten Zwilling in meine dreißig Jahre alte, nach Kloake stinkende Jeansjacke und machte mich auf den Weg. (Das mit der Kloake hatte mir mal ein Kind gesagt!)
Als ich die Tür meiner Behausung zuwarf, fiel sie aus den Angeln, aber egal, ich wollte ja nicht noch einmal
hindurchgehen. Ein eisiger Wind fegte durch die Straße und stiebte mir Schnee in die Augen, dass ich blinzeln musste, und jedes Mal, wenn ich blinzelte, schien es mir, als würde eine schemenhafte Gestalt in einiger Entfernung vor mir schweben. Rieb ich mir jedoch den Schnee aus den Augen, war sie wieder verschwunden. Wahrscheinlich trieb Johnny wieder seine Späße mit mir.
Fröhliche und glückliche Familien gingen singend und lachend an mir vorüber. Niemand schenkte mir einen Blick. Als ich an der Kirche vorbeikam, hielt ich an der Tür kurz inne und überlegte hineinzugehen, aber nein, dieser war nicht mein Gott, er hatte mich zu lange übersehen.
Ich hörte die dröhnende Stimme des Pastors, der die Predigt hielt und da ich sonst nichts hörte, ahnte ich die andächtig lauschende Gemeinde.
Ich wandte mich ab und wankte meinem Ziel entgegen, immer mit dem Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Das letzte Haus der Stadt, die Schreinerei von Wolfgang Schollmeier, ließ ich links liegen. Das Gebäude mit dem anliegenden Wohnhaus war sehr festlich geschmückt. Alina hatte es schon immer drauf gehabt, etwas Besonderes zu schaffen. Während unserer Ehe hatte sie unser Haus genauso festlich geschmückt und es war immer etwas sehr Besonderes. Na ja, das war einmal. Heute gehört sie zu Wolfgang und er darf sich sehr glücklich schätzen, sie zu haben.
Wieder musste ich mir die Augen reiben und wieder sah ich einen Hauch von etwas vor mir. Ein kräftiger Schluck aus der Flasche gab mir wieder neue Kraft.
Nach einer Weile, als längst keine menschlichen Spuren mehr im Schnee zu sehen waren, da ich schon ein gutes Stück aus der Stadt heraus war, konnte ich mein Ziel in der Ferne, durch das nur noch feine Schneegestöber, ausmachen.
Dichte, verschneite Tannen und Kiefern standen gebeugt an meinem Weg und schienen zu trauern. Hey, doch wohl nicht um mich. In immer kürzeren Frequenzen blieb ich stehen und schöpfte Kraft aus Johnny.
Der Wind nahm noch etwas zu, ich musste häufiger blinzeln und mein fast unsichtbarer Freund war auffälliger geworden, wie mir schien. Doch Johnny hatte mir schon öfter Halluzinationen beschert. So nahm ich das nicht sonderlich für voll. Nach noch ein paar Schlucken und Ausrutschern hatte ich sie endlich erreicht.
Die Hellbachtalbrücke ist eine Eisenbahnbrücke, die zwei Berggipfel miteinander verbindet. Sie ist einhundertfünfzig Meter hoch und wie geschaffen, um mich zu beschenken.
Als ich die Brücke bestieg, kämpften doch tatsächlich Engelchen und Teufelchen in mir. Ich war mir eigentlich immer sicher, dass die Sache klar war, warum dann plötzlich Emotionen?
In der Mitte der Brücke und an der tiefsten Stelle des Hellbachtals, balancierte ich auf dem Geländer und sah mich noch einmal um. In dieser Gegend wurde ich geboren, hatte meine Kindheit verbracht, meine Frau kennengelernt und verloren. Meine Kinder wuchsen hier auf und auch sie hatte ich verloren. Alles musste ich mir mehr als hart erarbeiten und irgendwie zerrann es mir immer wieder zwischen den Fingern wie Sand.
Ich war ganz unten angekommen, es gab nur einen Ausweg, diesem Ganzen zu entfliehen.

Plötzlich packte mich eine gewaltige Böe und in einem riesigen Schneewirbel stürzte ich in die Tiefe.
Es ging so schnell, dass ich nicht einmal überrascht aufschreien konnte.
Ich fiel und dachte, so schlimm ist der Tod nicht.

Ich öffnete die Augen … und war gestorben? Äh ... wie … nein, Blödsinn.
Vorsichtig schaute ich mich um, ein seltsames Pfeifen drang in meine Ohren. Das Erste, was ich sah, haute mich fast aus meinen Stiefeln (Seit wann hatte ich Stiefel?) ;-)
Ich lag in einem Schlitten, vorn hörte ich deutlich die Glocken der Pferde, die durch den Schnee tönten.
Weiterhin sah ich einen lächerlich gekleideten grünen Gnom auf dem Bock des Schlittens, der die Pferde antrieb.
Ich hatte einen roten Anzug an, mit einem extrabreiten schwarzen Ledergürtel. Als ich an mir herabschielte, erkannte ich einen großen weißen Rauschebart.
Jetzt wusste ich, was los war. Bestimmt war ich wieder unterwegs eingeschlafen und ein paar Burschen hatten sich einen Spaß gemacht und mich als Weihnachtsmann verkleidet. Wütend wollte ich mir den Bart abreißen. Aber verdammt, das tat weh … hatten sie mir den etwa angeklebt? Ich hatte Tränen in den Augen.
„Tun Sie das nicht, Sire“, sprach der Gnom. „Sie könnten sich weh tun."
Das hatte er wirklich nicht umsonst gesagt, denn so sehr ich auch an dem Bart zog, er war fest, wie angewachsen. „Was ist das für eine Scharlatanerie“, fuhr ich ihn an. Er zuckte zusammen und sah ängstlich zu mir herüber. „ Sire, Ihr wisst sicherlich noch nicht, was Ihr hier für eine Rolle spielt!“
„Wie,was für eine Rolle? Ich glaube, ihr wollt mich hier richtig verarschen oder wie!“
„Sire, ihr seid Euch wohl nicht darüber im Klaren, dass Ihr tot seid. Ich glaube, ich muss Euch aufklären."
Was hatte der grüne Knirps da von sich gegeben? Ich wäre tot? Na, so wie es aussah, hatte es ja wohl nicht ganz geklappt. Statt dessen hatte man mich offenbar im Vollrausch gekidnappt, mir einen lächerlichen Anzug übergezogen und einen Bart angeklebt. Und wahrscheinlich würde man mich bald auf einer Facebookseite betrachten können, weil ich mit Sicherheit gefilmt wurde. Das machte mich einfach wütend. Ich sprang auf und mir wurde ... schlecht.
Ich befand mich auf einem Schlitten, das sagte ich bereits ... ich weiß, aber dieser Schlitten befand sich … in der Luft, sehr weit, sehr sehr weit oben in der Luft. So hoch, dass mir schwindelig wurde.
Mir drehte sich alles.
Ich musste mich wieder setzen, bevor Schlimmeres geschehen konnte. Ich hatte außerdem gesehen, dass der Schlitten nicht von Pferden, sondern von Rentieren gezogen wurde.
Entweder wurde hier ein ganz mieses Spiel mit mir gespielt, oder ich befand mich im Delirium.
„Sire“, sprach der Grünling wieder, „verzeiht mir, aber Ihr habt Euch freiwillig das Leben genommen. Jeder, der so etwas getan hat, muss dafür Buße leisten, um in ein gutes Leben nach dem Tod eintreten zu können. Ich wurde Euch zugeteilt, um Euch beim Büßen zu helfen. Mein Name ist Quorx. Es tut mir leid, aber meine Eltern waren nicht sehr wählerisch bei der Namenssuche.“ Missmutig klatschte er in seine vierfingerigen Hände und zog einen schmolligen Trollmund.
„Mir wurde aufgetragen, da der echte Weihnachtsmann nach zweihundert Jahren endlich einmal Urlaub machen möchte, Euch in seine Fähigkeiten einzuweisen. Nur für diese Weihnachten, versteht sich.
Allmählich und immer deutlicher begann mir zu dämmern, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. So real konnte weder ein Traum noch die Wahnvorstellung eines Deliriums sein, und warum zum Geier verspürte ich keine Gier nach Alkohol?
Während ich so grübelte, stiegen rund um den Schlitten große Blasen auf, jawohl große Seifenblasen, in deren Innerem sich etwas befand. „Schnell, Sire“, rief der Gnom und begann nach den Blasen zu grabschen. „Euer Job beginnt jetzt, fangt so viel von den Blasen wie ihr könnt, denn das sind die Wünsche der Menschen.“
Warum nicht, dachte ich, seltsamer kann es schon gar nicht mehr werden. Ich griff also nach den Blasen und immer wenn ich eine erwischte, zerplatzte sie und ich hielt den real gewordenen Wunsch in meinen Händen. Der Schlitten füllte sich allmählich mit den Wünschen, die demnach auch die Geschenke waren. Doch alle konnte ich nicht erwischen, so sehr ich mich auch bemühte, und nun verstand ich auch, warum nicht jeder Weihnachtswunsch in Erfüllung ging. Längst schon hatte Qourx die Zügel genommen und trieb die Rentiere an, um hinter den Wünschen herzujagen. Seltsamerweise wuchs der Schlitten mit, je mehr Geschenke in ihm lagen, er konnte also gar nicht voll werden.
Allmählich wurden die Blasen weniger, die Wünsche waren erschöpft, nur hier und da stieg noch einer zum Himmel empor und ich hatte weniger Mühe, sie zu fassen. Es mussten schon Millionen sein, die sich an Bord des Schlittens befanden, der inzwischen die Ausmaße eines kleinen Passagierschiffes angenommen hatte. Die Rentiere machten dicke Backen, doch zogen sie das Gefährt immer weiter durch den Himmel.
Plötzlich sah ich im blinkenden Schein des Polarsternes noch zwei letzte Wünsche gemeinsam ins All entfliehen. Schnell wendete der Gnom den Schlitten und wir eilten hinterher, bevor sie vorzeitig platzten.
Als ich die erste Blase erblickte, wollte ich meinen eigenen Augen nicht trauen, denn in Ihr erkannte ich das Gesicht von Alina, mit all Ihrer Güte und Sinnlichkeit. Je mehr ich drüber nachdachte, desto mehr wurde mir klar, dieses konnte nur mein Wunsch sein. Ich hegte ihn schon so viele Jahre, Alina, komm zurück zu mir. Ich packte die Blase und sie zerplatzte. Es war eben kein materieller Wunsch, doch ich wußte, dass er in mich überging. Der Inhalt schwebte langsam zur Erde und löste sich auf. Selbst der Weihnachtsmann kann nicht alle Wünsche erfüllen. Lebensglück kann er nicht garantieren.
Noch mehr erschauerte ich, als ich die zweite Blase griff. In ihr erkannte ich mein Gesicht, eine durchgestrichene Jonny- Walker-Flasche und ein Herz. Irgendjemand hatte sich vermutlich gewünscht, dass ich aufhöre zu saufen, weil er mich sehr mag.
Als ich darüber nachdachte, dass es jemanden geben konnte, dem etwas an mir lag, bekam ich ein so warmes Gefühl, welches in mir hochstieg, dass ich weinen musste. Mit Tränen in den Augen wollte ich mich setzen, doch ich stolperte über ein Geschenk und fiel aus dem Schlitten …

… als ich wieder zu mir kam, lag ich neben dem Geländer der Hellbachtalbrücke.
So ein Mist, ich war wohl eingeschlafen und hatte alles nur geträumt. Der erste Versuch war also fehlgeschlagen und ich musste endlich springen …
Da fiel mein Blick auf einen Stofffetzen, der aus dem Schnee ragte. Ich zog daran und es kam eine kleine grüne Jacke zum Vorschein. Das gab es doch gar nicht, mein Herz pochte und aus einer klitzekleinen Tasche zog ich eine klitzeklitzekleine Weihnachtskarte hervor und las: „ Hallo Micha! Jeder verdient eine zweite Chance.
Frohe Weihnachten wünscht Dir Quorx."

PS: Die Wünsche, vor allem die letzten beiden, sind echt ;-)

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