Gott wird Sie strafen, Frau T.

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von Susanna Ka

Keuchend erreichte Kommissar Lukas Lucacz die vierte Etage. Sein Assistent Nils, der schon auf dem Treppenabsatz gewartet hatte, grinste:
„Naa, Chef, kommst wohl in die Jahre…“
„kein Wort…“
knurrte Lukas und atmete hörbar ein und aus.
„Wo ist die Tote?“
„In der Küche, zweite Tür links.“
Der wachhabende Polizeibeamte trat zur Seite und gab die Wohnungstür frei, die Kommissare betraten den Tatort.
Blut, überall Blut. Eine riesige Lache breitet sich auf dem Boden aus und floss gleichmäßig um die Frau herum. Blutspritzer an den Wänden, an den Türen der Unterschränke, auf den Stuhlkissen, einfach überall. Frau T. lag auf dem Rücken. Einen Arm hatte sie über das Gesicht gelegt, als hätte sie versucht, es zu schützen. Lukas wandte sich an den Gerichtsmediziner, der mit ratlosem Gesicht neben der Toten hockte.
„Hast du schon was Doc?“
„Die Frau ist erstochen worden. Mit einem spitzen Gegenstand, nein, wahrscheinlich mit mehreren. Sie hat Wunden am ganzen Körper. Es sieht so aus, als wäre der Täter sehr wütend gewesen. Er hat sie förmlich zerhackt. Ein besonders tiefer Stich hat den Herzbeutel zerfetzt, deshalb auch das viele Blut. Und – du weißt ja – alles Weitere nach der Obduktion. “
Das Blut durchtränkte bereits Kleidung der Toten und die Schuhsohlen des Arztes. Lukas sah sich um. In der einst so gemütlichen Küche hatte der Täter seiner Wut freien Lauf gelassen. Er hatte das Frühstücksgeschirr vom Tisch gefegt und die Scherben von „Hahn und Henne“ verteilten sich im ganzen Raum. Er hatte die Brötchentüte samt der Brötchen zerfetzt und die Tischplatte längs und quer eingeritzt. Die maisgelben Schleiflacktüren der Oberschränke waren perforiert. Es war ihm sogar gelungen, in das Ceranfeld tiefe Kratzer einzubringen. Die Kaffeekanne lag auf dem Boden und ihr dunkelbrauner Inhalt vermischte sich mit dem Blut der Ermordeten. Das Fenster stand weit offen.
„Spusi!“
Bellte Lukas.
„Schon unterwegs.“
Nils stecke gerade sein Smartphone wieder in die Jackentasche. Dann ging er vorsichtig um die Tote herum und spähte aus dem Fenster.
„Von hier kann der Täter nicht gekommen sein, vierter Stock, glatte Wand… ach du Scheiße…“
„Was ist?“
Lukas war angespannt. Der Anblick des zerschundenen Körpers und der verwüsteten Küche setzte ihm zu.
„Da unten war eine ziemlich große Hecke. Die hat jemand abgesägt und liegen lassen, mitten in der Brutzeit.“
„Reg dich nicht auf, das ist ein Fall für‘s Ordnungsamt.“
Achselzuckend trat Nils vom Fenster zurück.
„Wo ist eigentlich der Ehemann?“
Lukas wurde ungeduldig, er wollte hier raus.
Herr T. hatte beim Anblick seiner Frau einen Nervenzusammenbruch erlitten. Jetzt lag er im Wohnzimmer auf dem Sofa und der Notarzt gab ihm gerade die zweite Beruhigungsspritze.
„Aus dem kriegen Sie nichts mehr raus, Kommissar, der ist fertig. Ich nehme ihn mit in die Klinik. Morgen können Sie ihn befragen, früher nicht.“

Kommissar Lukas Lucasz und Kriminalassistent Nils Holgerson kamen mit ihren Ermittlungen nicht recht voran. Der Ehemann der Toten weinte bitterlich während der Befragung und stammelte immer nur:
„Ich konnte ihr nicht helfen, es waren zu viele...“
Zu viele was? Täter? Vielleicht, denn auch der Mann war mit Stichwunden übersäht.
Der Gerichtsmediziner druckste herum und brachte keine brauchbaren Ergebnisse.
„Noch nicht, Lukas, es ist noch zu früh…, sie hat Spuren einer unbekannten DNA am ganzen Körper. Die kann ich nicht bestimmen.“
„Aber du musst doch irgendetwas haben, die Form des Tatwerkzeugs oder was weiß ich… IRGENDETWAS!!!“
Langsam verlor Lukas die Geduld. Auch Roswitha, die Chefin der Spurensicherung hielt sich bedeckt. Alles noch nicht eindeutig, die Spuren seien schwer auszuwerten, und so weiter. Und Nils, der sonst jeden Fall aus einem besonderen Blickwinkel sah? Nils schwieg. Er schaute aus dem Fenster und schien eigenen Gedanken nachzuhängen. Sein Gesicht war angespannt, die Kiefern mahlten… Lukas hielt sich zurück in der Hoffnung, Nils würde in absehbarer Zeit mit irgendetwas Brauchbarem herausrücken.
„Lass uns noch einmal zu Tatort fahren, Chef, ich hab‘ da was gesehen...“
Seufzend griff Lukas nach dem Autoschlüssel.

„Können die Leute sich nicht mal im Erdgeschoss umbringen lassen?“
Wieder standen sie auf dem Treppenabsatz des vierten Stockwerkes, wieder keuchte Lukas und wieder grinste Nils. Er hatte bereits sein Taschenmesser gezückt und war dabei, den Klebestreifen an der Wohnungstür zu durchtrennen. Dann standen sie, wie am Vortag, in der Küche. Das Fenster war noch immer weit geöffnet. Eine Amsel ließ sich im Rahmen nieder. Ihr schwarzes Gefieder war stumpf und zerzaust. Sie legte den Kopf zur Seite und maß die beiden Männer mit einem kalten harten Blick, dann drehte sie sich um, breitet die Flügel aus und schwebte, majestätisch wie ein Adler, davon. Weder Lukas noch Nils hätten in diesem Moment zugegeben, dass ihnen soeben ein kalter Schauer den Rücken hinuntergelaufen war.
Dann sah Nils die kleinen Häufchen Vogelkot. Eines auf der Fensterbank, eines auf dem Fußboden. Auf der Anrichte, auf dem Tisch. Ein paar Flaumfedern tanzten im Abendwind.
„Chef, ich glaube, ich habe diese Häufchen gestern schon gesehen, und die Flaumfedern auch. Hab‘ nur nicht darauf geachtete, weil wir alle auf die Tote konzentriert waren.“
Lukas, der immer noch unter dem Eindruck des finsteren Vogels stand, brummte etwas und starrte aus dem Fenster. Was ging hier vor? Oder bildeten sie sich beide etwas ein?
Nils trat von einem Fuß auf den anderen.
„Chef, ich muss mal runter, zur Hecke.“
Schon stürmte er aus der Wohnungstür, flog mit Riesensätzen die Treppe ins Erdgeschoss hinab und fegte um das Haus. Die Hecke stoppte ihn. Betroffen starrte er auf die unsinnige Zerstörung. Jemand hatte zwanzig Meter Vogelschutzgehölz kurz über dem Erdboden abgesägt. Weißdorn, Hasel und viele andere Wildsträucher streckten hilfesuchend ihre toten Zweige in den Himmel. Trockene Blätter raschelten im Wind und direkt vor seinen Füßen entdeckte Nils vier tote Nestlinge.
„Ist das nicht eine Katastrophe?“
Ein alter Mann war an ihn herangetreten.
„Hunderte von Vogelkindern haben vorgestern den Tod gefunden.“
Der alte Mann begann zu zittern und Tränen liefen ihm über das Gesicht. Fürsorglich legte Nils seinen Arm um die zerbrechliche Gestalt. Doch der Alte war noch nicht fertig.
„Auch mit den Müttern, die sich schützend über ihre Kinder gelegt hatten, haben sie kurzen Prozess gemacht.“
Der Alte weinte, riss sich dann aber wieder zusammen.
„Hören Sie? Hören Sie die Stille? Diese grausame beängstigende Stille? Das war es, was sie wollte. Den Jubel der Natur, der jeden Morgen mit dem Hellwerden losbrach, den konnte sie nicht ertragen. Sie hat jeden Grünfinken und jede Ansel gehasst. Keinen Blick für die Schönheit der Rotkehlchen oder die glitzernden Gefieder der Stare… manchmal hat sie sogar Steine in die Hecke geworden. Ja, sie war voller Hass.“
Der Alte schluchzte, schnaufte und stützte sich schwer auf Nils‘ Arm.
„Wer?“
fragte Lukas, der inzwischen herangekeucht war,
„wer hat das veranlasst?“
„Sie…“
zischte der alte Mann, auch er hasserfüllt, und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf das noch immer geöffnete Küchenfenster. Dann stieß er seinen Stock drohend gegen den Himmel und rief mit hohler Stimme:
„Gott wird Sie strafen, Frau T.!“
„Das hat er schon getan…“
murmelten Lukas und Nils gleichzeitig.

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