Es ist der Wind

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von Susanna Ka

„Mama, die Wölfe heulen …“
"Nein, mein Kind, die Wölfe sind weit weg,
das ist der Wind.“

Dieser ewige Wind.
Er jault und heult durch die Fensterritzen, schleicht um die Ecken, reißt die Blumenkübel um …
Allmählich nimmt er uns die Lebenskraft, saugt uns das letzte bisschen Feuchtigkeit aus den Körpern. Aus dem Boden und aus den Pflanzen.
Gestern Abend, nach diesem langen heißen Tag, türmten sich blauschwarze Gewitterwolken am Horizont. Blitze zuckten von Ost nach West, Donner rollte hinterher, und der Sturm raste über die Felder. Sand und kleine Steine prasselten gegen die Fensterscheiben.

„Mama, es regnet …“
„Nein, mein Kind, der Regen ist weit weg,
das ist der Wind.“

Die Äcker sind ausgedörrt.
Die fruchtbare Krume ist zu Staub zerfallen und schon zeigen sich karstige Risse in der Oberfläche. Selbst, wenn es jetzt regnete, könnte der Boden das Wasser nicht aufnehmen.
Vertrocknete Rübenblätter rascheln unter meinen Sohlen. Wie die Früchte unter der Oberfläche aussehen, mag ich mir gar nicht vorstellen. Unser Vieh wird im nächsten Winter hungern müssen.
Der heiße Wind wirbelt Staubtrichter auf und treibt den fruchtbaren Mutterboden davon. Wir können nur tatenlos zusehen.
Nur der Weizen wird gesprengt, denn der ist unsere Lebensversicherung. Aber es sind auch unsere letzten Grundwasserreserven.
Früher war es eine Freude, wenn gesprengt wurde. Da glitzerte jeder einzelne Wassertropfen wie ein Diamant in der Sonne, ein Regenbogen spannte sich über das Feld.
Aber dieses Jahr ist das Wasser braun, von Sedimenten durchsetzt. Bald wird es versiegt sein.
Und Regenbögen ... gibt es schon lange nicht mehr. Die Sonne versteckt sich hinter einer Schicht aus dem Staub der ausgelaugten Böden. Ihr Licht spiegelt sich in Myriaden winziger Sandkörner, wird gleißend hell und tut den Augen weh. Auch die Hitze spiegelt sich und verstärkt sich um ein Vielfaches.
Die meisten Vögel sind verstummt.
Nur die Krähen, die Todesvögel, kreisen noch am Himmel.
Hoffen auf ein bisschen Feuchtigkeit in den Kadavern verdursteter Kühe.

„Mama, der Jäger hat die Kuh umgebracht …“
„Nein, mein Kind, der Jäger ist weit weg,
das war der Wind“.

Wir stehen in der Schlange an der Kasse im Supermarkt.
Im Einkaufswagen klappern die grünen Pfandflaschen mit dem Trinkwasser. Im Moment klettern die Preise nur langsam. Aber wenn die Trockenheit noch lange anhält, wird sich das schnell ändern.
Wenn es nur nicht so heiß wäre … als würde die ganze Welt verglühen!
Draußen wird der Himmel wieder einmal dunkel. Im Supermarkt flackern die Neonröhren. Donner grollt, das allabendliche Sturmgewitter zieht auf. Im Fernsehen hat man uns vor den Blitzen gewarnt. In der momentanen Wetterlage laden sie sich positiv auf. Sie sind greller, schlagen leichter ein und haben auch eine größere Reichweite als normale, negativ geladene Blitze. Das macht mir Angst. Draußen ist alles so trocken. Ein einziger Funke genügt …

Plötzlich ist es still – beängstigend still.
Dann klopft etwas auf das Wellblechdach des Supermarktes.
Tapp – tapp – tapp – erst zaghaft, dann heftiger
Tapp tapp – tapp tapp – tapp tapp …
Und dann rauscht und prasselt es wie ein Güterzug.
Die Leichtbauweise des Marktes kann diesem Ansturm nicht lange standhalten, schon laufen die ersten Rinnsal an den Wänden herab.

„Dieser verfluchte Wind …“

„Nein Mama,
der Wind ist weit weg,
das ist der Regen“.

Prosa in Kategorie: 
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