Kasachstan, Ende der 50er Jahre. Lena Kelm erzählt die authentische Geschichte zweier lebenslang befreundeter Frauen, die als Kinder Zeugen oberirdischer Atomtests in Kasachstan wurden. Erst nach 1989, in der Zeit von Glasnost und Perestroika, nach Schließung des Atomtestgeländes, erfuhr die Autorin von den wahren Hintergründen und der Gefahr, die von den Atomversuchen ausgingen, denen sie als Kind ausgesetzt war.
Sieh dort die Blüte fallen
kehrt sie zum Zweig zurück
Ach! – Es ist ein Schmetterling.
Arakida Moritake
Tanja öffnete mit großer Mühe ihre oliv-schwarzen Augen, sie konnte kaum die bleischweren Lider offenhalten. Sie stöhnte vor Schmerz und Enttäuschung: der Schmetterling war weg.
Ihr geschundener Körper schmerzte nicht nur dort, wo Tanja die frische Operationsnarbe vermutete. Der Schmerz hielt ihren ganzen Körper gefesselt. Die vierte Operation war überstanden,
dieses Mal an der Halswirbelsäule. Die wachsame Krankenschwester Katja – ihr Name fiel Tanja sofort ein – begrüßte sie freundlich und fragte, wie es ihr ginge. Mühsam brachte Tanja heraus: „Gut, es tut nur sehr weh.“ Zu hören waren nur zischende, pfeifende Geräusche, die sie von sich gab. Katja, die gute Seele, beruhigte sie. „Das wird schon wieder. Du bist aufgewacht, das ist das Wichtigste, nun geht es bergauf. Ich bringe der Ärztin die gute Nachricht, hab‘ Geduld!“ Tanja wollte nur schlafen und schloss die Lider.
Sie lag im spärlichen, aber grünen Gras, dem Wunder der kasachischen Steppe, zwischen jungen Birkenbäumen und Akaziensträuchern, aus den Knospen sprossen Blätter und gelbe Blüten. Tanja genoss die duftende Luft, die so ganz anders roch, als die gewohnte Steppenluft. Ihr gefiel die seltsame Situation. Mutter und Vater lagen neben ihr. Sonst waren sie immer beschäftigt und hatten keine Zeit. Sie hob den Kopf, sah Staubteilchen in den Sonnenstrahlen tanzen. Der strenge Offizier hatte ihr das Aufschauen verboten. Viele Menschen lagen im Park, flach mit dem Gesicht zum Boden. Der Offizier blieb längere Zeit weg. Für Tanja und ihre Schulkameraden war das stundenlange ruhige Liegenbleiben eine Höchststrafe. Immer wieder fragte sie die Eltern. „Wie lange dauern die Militärübungen denn noch?“ Sie wussten es aber auch nicht. Also hob sie den Kopf und beobachtete weiter den Schmetterling. Er war wunderschön: schwarzer Samt, grelles Gelb, winzige braune Tüpfelchen, die Farben der Steppe. Tanja hätte stundenlang diesem reizenden Geschöpf zusehen können. Sie bildete sich ein, der Schmetterling säße auf einem Ast des Akazienbusches und sähe sie zugleich traurig und triumphierend, dabei etwas herablassend an. Ich tue ihm leid, dachte Tanja, weil ich so lange wie angewurzelt hier liegen muss und nicht weiß, wieso. Er kann sich frei bewegen. Mit seinen Flügeln flattert er ein wenig und schon ist er auf einem anderen Ast. Er kann bis zum Horizont oder ins All fliegen, ach was, bis Moskau und in andere Länder. Warum bin ich nicht als Schmetterling geboren? Mit meinen zwei Beinen bin ich selbst beim Versteckspiel die Letzte. Der bezaubernde Schmetterling drehte seine Pirouetten vor Tanjas Augen, tanzte ihr beinahe auf der Nase herum, aber fangen konnte sie ihn nicht, wollte das auch nicht. Ein Schmetterling muss frei sein, das wusste Tanja mit ihren knapp neun Jahren schon. Sie mochte alle Lebewesen, Tierchen, sogar Eidechsen, von denen es eine Vielzahl in der Steppe gab. Wann immer sie einem verletzten Vogel, Hund, etwas Lebendigem begegnete, ob es kroch, lief oder flog, nahm sie es mit nach Hause.
So lag sie im Park neben den Eltern und beobachtete den Schmetterling, den Schönling, der sich leider nicht streicheln ließ. Plötzlich bemerk-te Tanja, dass er sich anders verhielt. Er flatterte hastig von Ast zu Ast, verweilte kaum eine Sekunde auf einer Stelle. „Ob es ihm nicht gut geht“, fragte sich Tanja. Da spürte sie, wie sich die Erde bewegte. Seltsam! Sie hörte Kinder weinen und ihre Mutter sagen: „Ruhig bleiben! Bald können wir aufstehen und nach Hause gehen. Nun haben wir wohl die Übungen hinter uns.“ Mutter wusste immer alles, sie war ja auch Schuldirektorin. Ihre resoluten Worte fielen immer klar und deutlich aus.
Die letzten Worte der Mutter verloren sich heute jedoch in etwas Unheimlichem. Tanja glaubte, sie würde gleich abheben. Da legte der Vater seine Arme um sie und drückte sie an sich, was fast ein wenig wehtat. Der orkanartige Windstoß ebbte nach einigen Minuten ab. Kleine grüne Blätter wirbelten in der Luft herum. Tanja kamen die Tränen. Ihre Mutter beruhigte sie sanft. „Du Dummerchen, alles ist vorbei, „Du Dummerchen, alles ist vorbei, brauchst keine Angst zu haben.“ Angst hatte Tanja nicht. Sie weinte, weil sie zusehen musste, wie ihr Schmetterling wie ein Sandkörnchen vom Orkan weggeblasen wurde. „Darum war er so unruhig gewesen, er ahnte wohl, dass er getötet würde“, ging es der untröstlichen Tanja durch den Kopf, nicht ahnend, dass auch sie in diesem Moment hätte getötet werden können.
Der Offizier erklärte lediglich das Ende der Militärübungen. Entgegen der allgemeinen Bewunderung und Stimmung beim Anblick des riesig anwachsenden Pilzes am Horizont war Tanja nicht begeistert. Alle sahen sich dieses „Naturwunder“ an. Ihr schien es, als ob jemand diesen Pilz malen würde, der stetig wuchs und dessen schwarze Farbe in Grau überging. Der Kopf des Pilzes breitete sich in der Luft aus, kleine Wölkchen lösten sich und wurden vom Wind weiter getragen. Tanja interessierte das nicht. Sie trauerte um den wunderschönen Schmetterling. Erst wartete sie noch, aber dann war sie sicher: „Er kommt nicht wieder.“ Der Vater nahm sie an der Hand. „Komm, Prinzessin, es wird Zeit, nach Hause zu gehen. Du kannst wieder mit Freunden spielen.“
Tanja weinte bitterlich. Die Ärztin Anna Iwanowna beugte sich über sie. „Tatjana Jurjewna, aufwachen, wachen Sie auf!“ Sie streichelte Tanjas Arm. Also die Ärztin war es, begriff Tanja, nicht der Vater. Lange schon war er tot, wie der Schmetterling, von dem sie seit fast vierzig Jahren träumte.
„Die Operation ist gut verlaufen“, sagte die Ärztin, „abgesehen von kleinen Komplikationen.“ Sie würde etwas länger auf der Intensivstation bleiben müssen und nach einer kurzen Erholung ginge es wieder los. Sie kannte das ja, üben, üben, nochmals üben. Tanja war eine Kämpfernatur, das wussten beide, auch das Klinikpersonal. Langsam kehrte ihre Stimme zurück. Es lag an den Stimmbändern, die Operation hatte sehr nahe den Sprechorganen stattgefunden. Tanja vertraute ihrer Ärztin. Nicht nur, weil sie sich viele Jahre kannten, sondern weil Anna Iwanowna ihr die ganze Wahrheit sagte.
Tanjas Leiden an Knochen, Gelenken und Muskeln begann vor mehr als zehn Jahren, direkt nach dem Abitur, als sie mit ihrer Mutter von Kasachstan nach Leningrad zog. Zwei Operationen hatte sie schon hinter sich, die nächste stand bevor. Man erklärte ihr, es sei Rheuma, liege am feuchten Klima. Gezwungenermaßen musste sie ihre Arbeit aufgeben und erhielt eine lächerlich geringe Schwerbehindertenrente. Das Leben in ständiger finanzieller Not und unter schlimmen Schmerzen wurde ihr immer mehr zur Qual. Nach der dritten Operation lud Anna Iwanowna sie zum Gespräch.
„Ich weiß, es erleichtert Ihre Schmerzen nicht, aber vielleicht erhalten Sie eine Entschädigung vom Staat, der Ihnen das angetan hat? Das wäre hilfreich, sie steht Ihnen wahrlich zu.“
Tanja konnte der Ärztin nicht folgen. Wovon redete die überhaupt? Anna Iwanowna fuhr fort: „Sie haben doch erzählt, Sie seien im Bajanaulski-Rayon, einem der nordöstlichen Gebiete Kasachstans, geboren, richtig? Das ist kaum 300 Kilometer vom Beskaragaiski-Rayon entfernt. Sie waren mit Ihrem Vater den Sommer über in einem Feldlager für geologische Forschungen im angrenzenden Maiski-Rayon, das dem Polygon der Atomversuche noch näher liegt als Ihr ehemaliger Wohnort. Auch erzählten Sie mir von dem Atompilz, den Sie mit eigenen Augen gesehen haben und der ungeheuerlichen Druckwelle. Heute haben wir Zugang zu den Geheimakten der oberirdischen Atomversuche in den 50er und 60er Jahren. 470 Atomtests wurden von 1949 bis 1989 durchgeführt. Die Atomkatastrophe von Tschernobyl war im Verhältnis zu den tausenden geheimen Tests mit Atomwaffen noch harmlos. Zwischen 1949, Ihrem Geburtsjahr, und 1956, dem Jahr Ihrer Einschulung, müssen Sie mindestens zwei oberirdische Versuche erlebt haben. Den Pilz haben Sie wohl einige Jahre später gesehen. Sie lebten viele Jahre mit unsichtbarem Regen aus radioaktivem Plutonium, Kalium, Strontium und Cäsium 137. Man erkrankt an den Folgenschäden nach dreißig bis fünfunddreißig Jahren. Bei Ihnen geschah das viel eher. Vielleicht liegt es daran, dass Sie frühzeitig aus dieser verseuchten Region wegzogen. Das völlig andere Klima, indem sie danach lebten, beschleunigte den Prozess der Degeneration der Knochen.“
Anna Iwanowna empfahl ihr, eine Messung der Radioaktivität im Körper am Forschungsinstitut Leningrad sowie Schmerzensgeld in Kasachstan zu beantragen. Doch Tanja konnte die Messung nicht bezahlen und aus Kasachstan erhielt sie auf ihre Anfragen keine Antwort. Eine Reise nach Kasachstan war ihr aus finanziellen Gründen ebenfalls nicht möglich. Da erfuhr sie zufällig von einem Forscher, der nach einem Monat Aufenthalt im Polygon-Gebiet eine immense Entschädigungssumme erhalten hatte. Wut über so viel Ungerechtigkeit packte sie und sie beschloss, dieses Land um jeden Preis zu verlassen...
Verlag: Epubli (2016), ISBN-10: 3741848875, Paperback, 180 Seiten
Kommentare
Eine authentische Geschichte, die mich tief beeindruckt, denn hier werden Menschengruppen, Familien mit Kindern, Alt und Jung, als Zeugen einer Atomexplosion missbraucht. Versuchsobjekte ohne Lebensgarantie. Und wenn sie es dennoch schafften zu überleben. Was ist aus ihnen geworden? Hier wird Tanjas Geschichte eindrucksvollerzählt. Lesenswert!
LG Monika
Ein Text, der wahres Leben birgt -
Echt und höchst authentisch wirkt ...
LG Axel
Hallo Frau Kelm, Sie können das Feld "Verweise / Links" dafür benutzen, Publikationen zu verlinken. Ich habe mir erlaubt, das für Sie in diesem Beitrag zu tun.