Meister A. berichtet einem Freunde: „Du, ich richte mir gerade einen interessanten Raum ein. So einen sollte jeder von uns sein eigen nennen können! Weißt du, normalerweise hängen an unseren Wänden Bilder, welche angenehme Erinnerungen wecken, manchmal auch Urkunden, welche uns an bestimmte Erfolge erinnern, manch einer hat sogar einen oder mehrere Pokale stehen, welche einen Schrank zieren, kurz gesagt, wir versuchen, es uns – was unsere Erinnerungen betrifft - daheim gemütlich einzurichten. Andernfalls empfänden wir unsere Wohnung als unpersönlich und irgendwie kalt.
Was den von mir angedeuteten Raum betrifft, so bin ich der Meinung, dass dieser ausschließlich meinen Misserfolgen, meinen bedrückenden Erlebnissen, tragischen und peinlichen Situationen, nicht zuletzt meinen 'Schandtaten' gewidmet werden soll.
Dabei lege ich Wert auf absolute Vollständigkeit – es soll eben nichts quasi unter den Teppich gekehrt werden. An der Wand hängen dann Portraits von Menschen, zu denen einst ein vermeintlich(?) guter Kontakt bestand, welche aber inzwischen – aus welchen Gründen auch immer – dem Umgange mit mir eher abhold sind, beziehungsweise diesen gänzlich meiden. Es sind Bilder darunter, die daran erinnern, wie schnell Liebe in Hass umschlagen kann, wie schnell beispielsweise aus einem 'Traummanne' ein 'Albtraum-Mann' werden kann, dem man seine Habseligkeiten - fein säuberlich in einem Karton verpackt - urplötzlich vor die Türe zu stellen sich genötigt sieht. Götter können gestürzt werden, Engel können fallen – nichts ist beständiger als die Unbeständigkeit!
Die Regale des Raumes zieren ehemalige Geschenke – einst gewiss mit Liebe und Freude überreicht – welche jetzt, nur noch zu skeletthaften Erinnerungsgegenständen degradiert, ihres ursprünglichen Glanzes beraubt, nebeneinander aufgereiht sind. An Bügeln hängen Kleidungs-stücke, welche man bei bestimmten negativ erinnerungsträchtigen Gelegenheiten einst getragen hat …
Ganz einfach gesagt: Ich stelle für die Ausgestaltung dieses Raumes alles an Bildmaterial und Gegenständlichem zusammen – was mich an emotional belastende Situationen, auch an Fehler und Fehlleistungen
meinerseits erinnert – einfach all das, was ich in meinen normalen, meinen sogenannten gemütlichen Wohnbereichen allzu gerne misse … und wo solche Erinnerungsstücke nicht mehr aufzutreiben sind, mögen notgedrungen gut lesbar aufgehängte Notizen diese würdig vertreten.“
Der Freund unterbricht Meister A. mit verwundertem Entsetzen: „Du bist wohl verrückt. Jeder strebt doch danach, es sich so individuell, so gemütlich wie möglich einzurichten. Außerdem muss deine Wohnung schon sehr groß sein, wenn du für solche abartige Ideen einen ganzen Raum zur Verfügung stellen kannst. Dafür wäre mir alleine schon der Platz zu schade – abgesehen davon, dass ich ein Zimmer nie derartig einrichten, noch mich darin aufhalten wollte!“
„Nun“, erklärt Meister A., „in zwei Punkten kann ich dich beruhigen. Erstens: 'Individuell eingerichtet' ist dieser Raum zweifelsohne und zweitens benötigt er keinen einzigen Quadratmeter an Wohnfläche, denn er existiert nur in meinen Gedanken, er sucht mich partiell auch in meinen Träumen heim. Beidmalig ist er allerdings sehr real! Ich behaupte auch nicht, dass der Aufenthalt darin sehr angenehm sei … im Gegenteil, aber auch dieser Raum verdient es, Teil meiner Wohnung zu sein – er ist eben eine Art 'Gegenwohnung'. Er gehört zum Ganzen – ob mir das passt oder nicht und ich glaube – ich hoffe dies zumindest – dass der fiktive Aufenthalt darin mit der Zeit erträglicher werden könnte, dass es mir gelänge, mich zunehmend mehr an die Einrichtung zu gewöhnen, dass diese durch regelmäßigen, geduldgetragenen Umgang mit ihr, ihre Schrecknisse, ihr bedrückendes Potential verlöre …
Es gäbe nur etwas noch Verhängnisvolleres, als diesen Raum einzurichten und das wäre, ihn nicht auszugestalten, ihn - einer vermeintlichen 'lebensfreudigen Gemütlichkeit' und Bequemlichkeit wegen - einfach zu verleugnen!“
Meister A. - wer kann das sein? Hinter „Meister A.“ könnte ich mich verbergen – unter dem abgekürzten Pseudonym von „Meister Alfred“. Es könnte aber auch „Meister Allgemein“ gemeint sein, also jeder, jede, jedes ... also „alle“ oder „niemand Besonderer“. Jedenfalls soll es hier – möglicherweise um eine Folge? - von kleinen Episoden, Anekdoten, Denkanstößen, Lebensweisheiten … gehen, stets zumindest mit einem wahren Kern, immer mit dem gleichen Titel, aber „fein säuberlich durchnummerieret“ (Nr.12 vom 16.12.2018).