Meine blaue Zelle

Bild von Runa Phaino
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Ich lebe in einem blauen Gefängnis. In einem Zimmer, fünf Quadratmeter klein. Ich sehe Vorhänge, dahinter ein Fenster. Ich habe es nicht geöffnet, seit ich hier einzog. Nie habe ich nach draußen gesehen – und ich werde es nicht tun. Denn ich habe Angst. Ich habe Angst, dass das, was ich draußen sehen könnte, so schön ist, dass es mein Dasein auf den blauen Metern herabwürdigt. Oder, was ich genauso fürchte, es könnte hässlich sein.

Wenn ich nicht gucke, kann ich Hoffnung haben. Diese Tatsache lebe ich.
Meiner Zelle gegenüber liegt eine andere Zelle. Nach dem Flur, der uns trennt, direkt hinter dem Gitter, wohnt Herr Videns.
Seine Zelle sieht genauso aus wie meine. Ein tiefes Blau, in dem eine Glühbirne von der Decke baumelt. Er besitzt Pritsche, Stuhl und Tischchen, in der hinteren Ecke eine Toilette und Waschbecken. Dieselben grauen Gardinen, dahinter dasselbe geschlossene Fenster.

Ich kenne Herr Videns, seitdem ich hier wohne. Er lebte schon vor mir hier. Einst schenkte er mir Zettel und Stift, damit ich festhalten kann, was ich jetzt schreibe.
„Guten Morgen“, wünscht Herr Videns eines Morgens.
„Ist das ein guter Morgen?“, murmle ich.

„Gewiss“, sagt er. „Heute werde ich den Vorhang öffnen. Ich habe es satt, ja, ich habe es satt.“
„Sie haben es satt?“, frage ich und mein Interesse erwacht. Ich erhebe mich von der Pritsche, auf der ich Nacht um Nacht ruhe. Ich sehe Herrn Videns, angekleidet und frisiert. Er blickt froh.
„Ständig dieses Einerlei. Meine blaue Zelle, Ihre blaue Zelle, Sie in Ihrer Zelle. Es ist Zeit.“
„Überlegen Sie gut!“, rufe ich. „Sie könnten die Hoffnung verlieren!“ Mein Herz klopft, meine Hände zittern. Oft haben wir uns über die Vorhänge unterhalten und waren derselben Meinung. Sie zu lüften würde in jedem Fall Enttäuschung nach sich ziehen. Selbst, wenn dort etwas sein sollte, das erfreut, – es wäre unerreichbar und damit schmerzvoll anzusehen.
Herr Videns schreitet entschlossen zur Tat.
Eine Welle aus Neugier überwältigt meinen Protest. „Seien Sie vorsichtig …“, wispere ich und beobachte mit grauenvollem Behagen, wie Herr Videns den Vorhang anhebt. Seitlich lugt er hindurch. Licht fällt auf sein faltiges Gesicht. Er flüstert, runzelte die Stirn, reibt sich die Augen.
Vor Spannung halte ich den Atem an. Und ein Gedanke durchzieht meinen Geist: Wie alt mag er sein, frage ich mich. Sein Haar, das ich grau in Erinnerung hatte, leuchtet weiß, als der Vorhang fällt.

„Was haben Sie gesehen?“, keuche ich.
Herr Videns dreht sich zu mir. Seine Augen funkeln.
„Och, ich fand nichts Besonderes …“, sagt er, setzt sich auf den Stuhl und faltet die Hände.
„Sie sehen … zufrieden aus!“, protestiere ich.
„Das war nichts“, wehrt Herr Videns ab, doch sein Lächeln straft ihn einer Lüge.
„Erzählen Sie!“
„Wollen Sie nicht gucken?“
„Aus Ihrem Fenster? Das geht nicht!“
„Nein“, sagt er und winkt ab. „Aus Ihrem Fenster.“
„Niemals!“, rufe ich entrüstet.
„Machen Sie es, trauen Sie sich. Es ist leicht.“
„Herr Videns“, ich stehe auf und laufe unruhig hin und her. „Herr Videns. Sie kennen meinen Standpunkt. Ich kann und ich werde nicht gucken. Unmöglich, dass es mir ergeht wie Ihnen. Es sei denn, ich schaue aus Ihrem Fenster!“
„Sie selbst haben eines.“
„Wir haben dieses Thema besprochen. Ich könnte es nicht ertragen. Akzeptieren Sie das.“
Herr Videns seufzt.
„Sagen Sie mir, was Sie gesehen haben!“
„Gut“, sagt er. „Ich will Ihnen etwas von Ihrer Angst nehmen. Die Befürchtung, dass das Bild zu schön oder zu hässlich ist, können wir verwerfen. Alles, was ich vorfand, sehe ich, wenn ich Sie betrachte. Eine hübsche Dame in einer dunkelblauen Zelle, mit exakt einer Pritsche, Stuhl und Tisch. Und ein Fenster.“

Ich setze mich, überwältigt von seinen Worten. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Wenn dies zuträfe, dann wäre es tatsächlich nicht so schlimm, wie befürchtet – oder gar zu schön. Oder wäre es schlimm? Wenn alles so ist, wie das, was wir ohnehin schon kennen?
„Das gibt es doch nicht! Also fürchteten wir umsonst, falls dort, hinter dem Vorhang, alles ist wie hier!“
Doch da ist etwas, das nicht so sein kann, wie unsere Zellen. Es nagt in mir, also rufe ich:
„Erzählen Sie von der Frau!“

„Die Frau?“, fragt Herr Videns, „Ach, die ist nicht besonders …“

„Dann sagen Sie mir, was sie Ihnen gesagt hat! Sie haben doch geflüstert!“

Herr Videns räuspert sich und streicht sein Kinn.
„Nun, sie sagte mir, dass sie gerne aus ihrem Fenster sieht.“
„Sie tut es?“, frage ich. Ob Herr Videns mich zum Narren halten will? „Was kann sie sehen? Eine Frau in einer Zelle?“
Herr Videns fährt fort mit ruhiger Stimme, sitzend auf dem Stuhl, die Hände gefaltet, manchmal spreizt er einen Finger ab.
„Das will sie mir erzählen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich das wissen will.“
„Sie müssen sie fragen“, sage ich. Vielleicht, um mich zu vergewissern, dass Herr Videns die Wahrheit sagt, vielleicht, weil meine Neugier brennt.
„Sehen und hören Sie selbst!“, sagte Herr Videns.
„Nein!“
Ich drehe ihm den Rücken zu und verschränke die Arme.
„Gut“, sagt Herr Videns. „Ich weiß, was Sie zu tun imstande sind. Ich möchte keinen Streit mit Ihnen. Ich werde die Frau fragen.“
Erleichtert drehe ich mich zurück und lächle. Herr Videns steht auf und geht ans Fenster.

Gatter quietschen, der Korridor hallt von Schritten, schwere Stiefel, die in unsere Richtung laufen.
Haferbrei im ungünstigsten Moment.
Eigentlich mag ich den Haferbrei. Drei Mal am Tag zur selben Zeit, dieselbe hellbraune Suppe, mit derselben gleichförmigen Temperatur. Ich fühle mich geborgen, wenn ich den Löffel in den Mund schiebe und den Brei dort langsam zergehen lasse. Es gibt nur eine Sache, die meine Zunge mehr reizen würde, aber die bekommen wir hier nur selten: Orangen.
Der Wärter schiebt das Tablett unter Herrn Videns Gatter hindurch. Dann dreht er sich zu mir und sagt: „Lassen Sie es sich schmecken“, während er den Haferbrei hereinschiebt.
Ich betrachte den Haferbrei und warte ungeduldig darauf, dass die Schritte des Wärters nicht mehr zu hören sind. Gleicher Haferbrei auf demselben Tablett. Dasselbe Einerlei. Eine graue Soße mit fetten Klumpen. Öde und langweilig. Die Schritte verhallen.

„Jetzt machen Sie!“, zische ich zu Herrn Videns. „Fragen Sie die Frau!“
Herr Videns ist schon dabei, den Brei zu verspeisen. Er rückt seinen Stuhl ans Fenster und verschwindet samt Löffel und Schälchen unter der Gardine. Der Stoff verdeckt ihn, ich höre ihn schmatzen und kichern. Den Haferbrei

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Kommentare

11. Okt 2015

Lesenswert: auf alle Fälle -
Die Story von der blauen Zelle!

LG Axel

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