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großes Wort! – Ich wünschte mir mittlerweile nichts lieber als das.
„Sie sollen noch das Silber im Haus Ihrer Schwester nachzählen, Herr Kröger“, erinnerte ich ihn an die Worte des Kommissars.
„Das mache ich später, Katja. Ich habe jetzt wirklich keine Nerven mehr für solche profanen Dinge. Das Haus steht noch, und die Möbel sind ja wohl auch noch alle drin“, erwiderte Kröger.
„Nachdem wir eure Mutter im Krankenhaus besucht haben, schauen wir noch kurz in meiner Wohnung vorbei. Ich möchte die Post durchsehen und meinen Hannes begrüßen.“
„Hannes … er wird leider nicht dort sein, Herr Kröger. Er wollte ... er wollte … heute abend zu einem Klassenkameraden fahren, um mit ihm Mathe zu pauken“, stammelte ich.
„Bist du dir da wirklich sicher, Katja?“, lächelte Kröger.
„Ich glaube viel eher, dass er mit seinem Freund zu einem Fußballspiel gefahren ist. Wenn mich nicht alles täuscht, findet heute eine Begegnung zwischen ,Eintracht Lübeck' und und ,Blau-Weiß-Travemünde' statt.
„Wahrscheinlich haben Sie Recht, Herr Kröger“, seufzte ich erleichtert. Die Dinge wuchsen mir allmählich über den Kopf, und ich war über alle Maßen froh, dass Kröger sich nicht darüber wundern würde, wenn Hannes nicht in der gemeinsamen Wohnung anzutreffen wäre. Aber im nächsten Augenblick dachte ich: Wehe, „Macheath“ grölt in irgendeinem Fußballstadion herum, anstatt im Landgericht über Akten zu brüten.
Kröger parkte auf dem Parkplatz vor der Beckumer Polizeiwache; wir stiegen aus und gingen hinein.
„Hallo, ich bin Polizeikommissar Warner“, sagte der junge Beamte, der mich am Morgen „verhört“ hatte, und schüttelte zuerst Kröger und danach Kora, Konny und mir die Hände. Wir benötigen noch dringend die Aussagen der Kinder von Frau Gehricke. Das seid ihr beide, nicht wahr?“ Er sah Kora und Konny fragend an, die sofort zustimmend nickten.
„Es wäre sehr wichtig für uns zu erfahren, wann ihr das Haus verlassen habt und wo sich eure Mutter zu diesem Zeitpunkt befand, damit wir die Tatzeit noch exakter definieren können.“
„Selbstverständlich, Herr Warner“, sagte Kröger und schob Kora und Konny, die ein wenig befangen auf dem Flur standen, vor sich her in die Wachstube. Ich setzte mich auf einen der Stühle, die vor dem Tresen standen, und Kröger nahm neben mir Platz.
„Also wann habt ihr eure Mutter zuletzt gesehen?“, wollte Herr Warner von Kora und Konny wissen, nachdem er sich hinter einem schwarzen Ungetüm von Schreibmaschine, die aussah, als sei sie aus schwerem Gusseisen hergestellt und von anno dazumal, niedergelassen und die üblichen Daten wie Personalien in das vorgefertigte Vernehmungsprotokoll eingefügt hatte.
„Punkt halb zehn“, sagten Kora und Konny wie aus einem Munde. „Wir haben nämlich kurz bevor wir aufbrachen unsere Armbanduhren angelegt“, fuhr Konny zur Erklärung fort und lächelte den erstaunten Polizeibeamten triumphierend an.
„Wir helfen meiner Mutter in den Ferien immer ein bisschen im Garten und in der Küche. Dabei stören uns die Uhren ganz erheblich. Man müsste sich sonst enorm vorsehen mit Wasser, Sand und Erde, oder dass man im Eifer des Gefechts nirgendwo gegenstößt.
Kröger lächelte zufrieden, während Konny seine Erläuterungen über die Handhabung von Zeitmessern von geringem Gewicht zum Besten gab.
Kröger dachte gewiss: Ein vernünftiger Bursche, mein Neffe Konny. – Ich atmete tief durch und rief mir voller Scham die ellenlange Serie von Armbanduhren in Erinnerung, die ich auf dem Gewissen hatte, und die sich insbesondere während des Barrenturnens im Sportunterricht urplötzlich zu verabschieden pflegen, indem sie ganz einfach zu Bruch gingen oder sich weigerten, weiterzuticken. Ob es Hannes mit seinen Armbanduhren ähnlich erging? Ich meinte mich daran zu erinnern, bisher kein einziges Exemplar an seinem Handgelenk entdeckt zu haben.
Armer Hannes! Wo mochte er jetzt sein? Im Landgericht? Auf dem Bolzplatz? Oder hatte ihn womöglich ein Lübecker Staatsanwalt in der Mangel, weil er in irgendeinem Sitzungssaal oder in einer der vielen Registraturen unliebsam aufgefallen war? Ich seufzte zum wiederholten Mal, was Kröger zu der Bemerkung veranlasste: „Keine Angst, Katja. Es wird alles wieder gut.“
Er nahm meine Hand und drückte sie, und ich stellte mir vor, dass er dabei an seine Schwester, die gute Tante Selma, dachte, die wegen Hannes und mir mit einer schweren Gehirnerschütterung im Krankenhaus lag.
„Als wir uns von unserer Mutter verabschiedeten, ging es ihr noch hervorragend. Sie war guter Laune und wollte ins Dorf fahren, um Zutaten für einen Haselnusskuchen zu besorgen“, hörte ich Kora sagen. Konny nickte zur Bestätigung, und Warner zeigte ein charmantes Lächeln.
„Und euch ist draußen oder auf dem Weg nach Sickum nichts Außergewöhnliches aufgefallen?“, fragte er.
„Nein. Nicht das Geringste.“ Kora und Konny schüttelten synchron die Köpfe.
„Also gut. Das war's auch schon. Bitte lest euch eure Aussagen noch einmal aufmerksam durch, bevor ihr sie unterscheibt“, sagte Herr Warner, der Koras und Konnys Offenbarungen aufreizend langsam und mit offenbar brettsteifen Fingern in die Maschine getippt hatte. Dann stand er auf, griff nach einem weiteren Formular, das neben dem schwarzen Ungetüm lag, und kam damit um den Tresen herum auf mich zu.
„Fräulein Kleve (anscheinend sehe ich älter aus als Kora und Konny, liebe Christine), ich habe zwischenzeitlich auch Ihr Vernehmungsprotokoll aufgesetzt. Bitte lesen Sie sich alles noch einmal gründlich durch, bevor Sie Ihren Namen daruntersetzen.“
Ich nahm das Schriftstück entgegen und wollte mich sofort darin vertiefen, als handelte es sich bei meiner Aussage um einen Thriller erstklassiger Güte; aber bevor ich dazu kam, sagte Kröger: „Lass mich bitte mitlesen, Katja. Es interessiert mich geradezu brennend, was sich heute Morgen in Selmas Haus ereignet hat.“
Und so kam es, liebe Christine, dass Hannes' Vater und ich unsere Köpfe zusammensteckten, eine Situation, wie ich sie mir nach unserem ersten Zusammentreffen (auf dem Hof, erinnere dich bitte, mit Leni auf dem Weg zum Hühnerstall) in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hätte.
„Ich hoffe, dass es Ihrer Schwester bald wieder besser geht, Herr Kröger“, wandte sich Warner zum Abschied an Lachaus neuen Gutsinspektor. Man sah ihm an, dass er wirklich besorgt war und keine Höflichkeitsfloskel vorschob.
„Ich denke, dass es nicht allzu ernst ist“, sagte Kröger.
„Übrigens fahren wir gleich zu ihr ins Krankenhaus.“
„Bitte richten Sie Ihrer Schwester unsere besten Grüße aus und dass wir ihr baldige Genesung wünschen. Wir werden sie morgen aufsuchen, um