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Es kommt auf die Stille
in der Seele eines Menschen an
und auf die Seele des Menschen,
in der die Stille ihren Sitz hat.
(Antoine de Saint-Exupéry)
Der Überfall (Teil 19; Text 2)
„Keine Sorge“, beruhigte Kröger Konny und Kora. „Eure Mutter ist außer Lebensgefahr. Wie ich soeben von Katja, der wir es wohl zu verdanken haben, dass Tante Selma diese fiese Straftat überlebt hat, erfahren habe, sollt ihr euch umgehend auf der Polizeiwache in Beckum melden. Es müsse ein Vernehmungsprotokoll aufgenommen werden, und Katja habe ihres noch nicht unterschrieben. Ich fahre euch selbstverständlich dorthin, und im Anschluss besuchen wir eure Mutter.“
„Äh, ihr sollt ... sollt vorher noch nachschauen, ob ... ob etwas entwendet wurde“, stammelte ich. Mir war schrecklich in meiner Haut, liebe Christine, denn Krögers Lob habe ich ganz und gar nicht verdient. Im Gegenteil! Hätten Hannes und ich auf den Erpresserbrief verzichtet, wäre Tante Selma vermutlich nicht in Gefahr geraten.
„Das ist Ihnen doch Recht, Herr Fuchs?“, hörte ich Kröger fragen.
„Aber selbstverständlich, Herr Kröger“, sagte der Kriminale.
Tom schnüffelte derweil unentwegt an Helges Schuhen herum und bellte dermaßen laut, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Ich versuchte vergeblich, ihn von Helge fortzuziehen, bis Konny mir endlich dabei half.
„Was hat er denn nur?“, wunderte sich Kröger.
„Weiß nicht“, sagte ich, obwohl mir klar war, dass Tom den Überfall auf Tante Selma mitbekommen hatte. Augenscheinlich war er darüber hinaus im Bilde, wer den Überfall begangen hatte.
Möglicherweise hat er Helge sogar gebissen, überlegte ich und musterte den Maskenmann, diese üble Kanaille, eingehend von Kopf bis bis Fuß; Helge giftete mich, wie üblich, mit zusammengekniffenen Augen an, schwieg jedoch. Ich konnte weder Bißwunden noch irgendwelche Schrammen an ihm entdecken; allerdings trug er jetzt ein gelbbraunes Khakihemd mit langen Ärmeln. Bei dieser prallen Sonne, die mir, neben meinem schlechten Gewissen der guten Tante Selma gegenüber, mächtig einheizte. Aber die Tatsache, dass er sich umgezogen hatte, schien mir verdächtig. Auf „Herkules“ hatte er sich heute Früh in einem blütenweißen, kurzärmeligen Baumwollpullover präsentiert, und während der Feldarbeit trug er meistens einen Overall über seinen Zivilklamotten.
„Ach, Herr Brandner“, wandte sich Kommissar Fuchs plötzlich an Helge. „Wo haben Sie sich eigentlich heute Vormittag zwischen 09:00 und 12:00 Uhr aufgehalten?“ Helge setzte eine empörte Miene auf.
„Auf den Feldern, bei der Arbeit. Wo denn sonst?“, gab er mürrisch zur Antwort. „Heiner, ich meine natürlich, Herr Anzengruber, kann das im Übrigen bestätigen.“
„Waren Sie die ganze Zeit zusammen auf den Feldern?“, erkundigte sich Herr Fuchs und streifte Heiner mit einem eindringlichen Blick aus seinen stahlblauen Augen.
„Ja, ja, gewiss, gewiss“, stotterte der Lachauer Gutsmelker und wurde purpurrot. Helge grinste zufrieden.
„Nun dann“, sagte Herr Fuchs und lächelte in die Runde. „Auf Wiedersehen, meine Herrschaften. Vermutlich schon sehr bald.“
Er nickte uns allen zu, warf einen letzten Blick auf Helge, den Stiefsohn der Gnädigsten aus erster Ehe, den Herr Brandner allerdings adoptiert haben musste, denn sonst hieße Helge nicht ebenfalls „Brandner“ (was mir neu war, liebe Christine), stieg in seinen Dienstwagen und brauste mit Karacho vom Hof runter. Die Lachauer Hühner gackerten wie wild, und das Gänsevolk kreischte vor Panik und watschelte kreuz und quer über den Rasen vor dem Schweinestall.
„Was für ein feiner Herr“, sagte Tante Agnes. Oma und Mutti beeilten sich ihr beizupflichten. Hoffentlich ist er auch clever genug. Es sieht fast so aus, als sei dies endlich mal der Fall, sonst hätte er Helge nicht „auf dem Kieker“, dachte ich.
„Sooo nett fand ich den nun auch wieder nicht“, brummte Leni zu unser aller Erstaunen. Sie warf dabei einen schiefen Seitenblick auf Helge, der irgendwas von „endlich wieder arbeiten“ faselte und Richtung Kuhstall davonstiefelte – nicht ohne Heiner vorher mit einer unmissverständlichen Kopfbewegung aufgefordert zu haben, ihm unverzüglich zu folgen.
„Also los, Kinder, einsteigen“, sagte Herr Kröger und öffnete die Wagentür seines BMWs.
„Wir müssen doch erst noch die Räder nach Hause bringen und nachschauen, ob unser Silber noch im Schrank ist, Onkel Axel. – Und was ist eigentlich mit Tom?“, fragte Konny.
„Soll der etwa mit ins Krankenhaus?“
„Tom kann solange bei mir bleiben“, bot sich Leni an, „und die Räder könnt ihr mitnehmen, wenn ihr wieder zurück seid.“
„Mach hier ja keinen Blödsinn, Tom“, warnte Konny den lieben, tollpatschigen Hund; aber der hatte bereits neben Luchs Platz genommen und beachtete uns nicht weiter. Beide starrten wie hypnotisiert auf den Teich, als sei es ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Gänse nicht über die Stränge schlügen und sich womöglich auf den Weg in den Park machten.
Ich setzte mich mit Kora in den Fond von Krögers Wagen.
„Hätten wir das gewusst, wären wir garantiert zu Hause geblieben“, seufzte sie.
„Hinterher ist jeder schlauer, Schwesterchen“, sagte Konny.
„Hat Mutti eigentlich noch Kuchen backen können, oder hat dieser Unhold vorher zugeschlagen, Katja?“
„Ich befürchte, dass eure Mutter dazu nicht mehr gekommen ist, Konny. Vielmehr glaube ich, dass sie noch nicht einmal einkaufen war.“
Kora sah mich eine Weile mit großen Augen von der Seite an und schien sich über irgendetwas den hübschen Kopf zu zerbrechen. Vermutlich dachte sie an ihre mysteriöse Entführung und den Überfall auf ihre Mutter und zog Parallelen. Und es sah fast so aus, als würde dabei etwas herauskommen, das Hannes und mich in arge Schwierigkeiten bringen könnte. So weit hatten wir es gebracht, Hannes und ich! Letzten Endes würde bei der ganzen Sache nichts außer Schmerzen und Leid für Tante Selma herauskommen, Aufregung ohne Ende und dass Kora und Konny Hannes und mir nicht mehr über den Weg trauen, dachte ich und war sehr niedergeschlagen. Der Hoferbe würde wie geplant Ende des Jahres die stiefmütterliche Scholle übernehmen, Hannes' Vater seinen Hut ergreifen und das Weite suchen, weil er mit Helge als Chef nicht klarkäme, die Ferien wären ohnehin total vermasselt, und zwar für alle Ewigkeit, und nach Knut würde am Schluss kein Hahn mehr krähen.
Ich seufzte und ließ den Kopf hängen. Kröger hatte mich im Rückspiegel beobachtet und ließ verlauten: „Das war heute wirklich zu viel für dich, Katja. Hoffentlich kehrt bald Ruhe ein und ihr könnt eure Ferien genießen.“
„Genießen“, sagte er, liebe Christine. Was für ein