Ich stolperte die Flurtreppe ins Erdgeschoss hinunter, fiel auf der drittletzten Stufe hin und kullerte auf die Steinfliesen im Flur.
„Weshalb machst du kein Licht, Cordula?“, rief Pavel von oben.
Zwei Sekunden später flammte gleißende Helligkeit auf. Ich zog mich mit einer Hand am Treppengeländer hoch und ergriff mit der anderen den Telefonhörer.
„Palme“, rief ich aufgeregt ins Telefon und wartete … wartete und hoffte, dass Sally sich meldete, aber bis auf ein leichtes Atmen blieb es still am anderen Ende der Leitung.
„Sally“, flehte ich in den Hörer. „Bitte melde dich. Wir vermissen dich so sehr. Es wird alles gut. Wo soll ich dich abholen?“
Darauf folgte ein kurzes, herzzerreißendes Geräusch, einem unterdrückten Schluchzen ähnlich, und in der nächsten Sekunde schon war die Verbindung unterbrochen.
Ich ließ mich auf die unterste Treppenstufe sinken, niedergeschlagen wie eine Verliererin, die Letzte in einem Sprint geworden war – ich hatte versagt, auf der ganzen Linie: Meine Tochter war am Telefon gewesen und hatte kein einziges Wort herausgebracht.
Pavel war inzwischen die Treppen hinuntergekommen, hatte sich neben mich gestellt und gelauscht.
„Sie war es“, sagte ich. „Das m u s s Sally gewesen sein. Ich habe sie atmen hören. Sie lebt, gottlob, aber sie hat kein Wort gesagt.“
Ich warf mich in Pavels Arme und weinte all die Ungewissheit, die sich seit Sallys Verschwinden wie ein Berg in mir aufgetürmt hatte, in sein weißes Baumwollhemd.
„Ich habe eine Idee“, sagte Pavel, als ich mich leergeweint hatte. „Ich fertige einen sogenannten Steckbrief von Sally an, den wir morgen in der Münchener Innenstadt verteilen. Sie wollte doch nach München mit diesem Tom, oder habe ich deine Mutter missverstanden?“,
„Nein, nein“, versicherte ich. „Du hast sie ganz richtig verstanden, aber der junge Mann soll sich 'Nick' und nicht 'Tom' genannt haben.
„Auch gut“, sagte Pavel. Dieser Name ist ohnehin erdichtet. Machen wir uns an die Arbeit.“
„Ich entdeckte in unserem Fotoalbum ein Porträt von Sally, das am ehesten ihrem heutigen Aussehen entsprach. Sie war damals gerade vom Friseur gekommen; hatte sich ihre schönen dunkelbraunen Haare monströs schneiden und rosa färben lassen. Ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als sie vor mir stand. Die eine Hälfte ihres Schädels war fast kahlrasiert, auf der anderen Seite fiel das Haar strohig und zerfranst auf die Schulter. Meine Mutter hatte ihren Fotoapparat geholt und sie fotografiert. Als Sally nach oben in ihr Zimmer gegangen war, hatte sie zu mir gesagt: „Zum Andenken für deine Tochter, damit sie irgendwann wenigstens nachträglich über ihre Geschmacksverirrung lachen kann.“
Ich hatte mich dann bald von dem ersten Schock erholt; wir beide, meine Mutter und ich, fanden Sallys Verwandlung damals noch witzig, jedenfalls taten wir voreinander so, was hätten wir auch sonst tun sollen. Ich erinnere mich, dass wir Tränen gelacht hatten – bis Sally herunterkam und sich scheinheilig erkundigte, was uns denn so maßlos erheitere.
Als sie in ihrem 'verbotenen Aufzug' vor uns stand, gekleidet wie ein Grufti, mussten wir noch heftiger lachen, hielten uns vor lauter Gelächter die Seiten und konnten nicht mehr aufhören. Sally hatte verständnislos den Kopf geschüttelt und war wieder in ihr Zimmer getrabt.
Inzwischen war mir das Lachen gründlich vergangen. Was hätte ich damals gegen Sallys Geschmacksverirrung unternehmen sollen? Ein Fernsehverbot oder gar Stubenarrest erteilen? Ich bin selbst jetzt noch überzeugt davon, dass solche Maßnahmen 'für die Katz' sind und nichts weiter als Aggressionen hervorrufen, weshalb ich Sally herumlaufen ließ, wie sie es für angemessen hielt.
Um das Getratsche der Nachbarn kümmerten meine Mutter und ich uns nicht die Bohne: Es wird viel geredet, wenn der Tag lang ist, insbesondere, wenn man den ganzen Tag nichts Vernünftiges zu tun hat. Ich war voll ausgelastet und hätte gar nicht die Zeit gehabt, mich über andere Leute auszulassen, und meine Mutter, obwohl sie den ganzen Tag über zu Hause war, in unserem schönen Heim, kochte, wusch, putzte und hielt den Garten in Ordnung. Auch sie hatte sich noch nie über Langeweile beklagt. Es gab immer etwas zu tun.
Ich erinnerte mich bei diesen Gedanken an die Worte des ehemaligen Bundespräsidenten Karl Carstens, der die Süße des Lebens lobte, die sich jedoch nur dann einstelle, wenn das Leben Mühe und Arbeit sei.
Damals, als ich im Verlag sogar noch die Wochenenden unter einem Berg von Arbeit zubrachte, hätte ich dieses Lob auf die Arbeit in seiner ganzen Aussage unterschrieben, heute jedoch bin ich zu der Meinung gelangt, dass Arbeit und Freizeit sich die Waage halten sollten, zumal es sehr viele Menschen auf dieser Welt gibt, die schlecht bezahlt werden und aus nachvollziehbaren Gründen nicht in der Lage sind, Leidenschaft für ihre Berufe aufzubringen - zum einen, weil die Jobs, die sie ausüben, entweder langweilig und öde sind, zum anderen, weil gewisse Berufe Körpereinsätze erfordern, die früher oder später zu gesundheitlichen Schäden führen.
Pavel und ich setzen uns an den Computer, scannten Sallys Foto, setzten es mit einem Foto-Programm in Szene und beschrifteten es:
„Wer hat meine Tochter Sally gesehen?“, hatte ich unter die Aufnahme (s. bitte am Ende dieser Folge) geschrieben. „Sie ist noch minderjährig, erst vierzehn Jahre alt, und befindet sich vermutlich in der Gewalt eines sogenannten Loverboys. Das sind junge, meist gutaussehende Männer, die jungen Mädchen die Welt versprechen, um sie letztendlich auf den Strich zu schicken. Bitte melden Sie sich bei mir, sobald Sally ihnen über den Weg läuft.“
Darunter setzte ich meinen Vornamen und meine Handynummer.
Danach frühstückten wir alle drei; es war ein schweigsames Frühstück. Ich dachte daran, dass Pavel in wenigen Stunden nicht mehr an meiner Seite sein würde und dass ich meine Mutter wiederum mindestens zwei Tage alleine lassen musste.
„Wie soll ich mich verhalten, wenn Sally mit dem jungen Mann hier aufkreuzt, während ihr in München seid?“, fragte sie ängstlich.
„Dann versteckst du dich irgendwo im Haus, Magda, und rufst die Polizei oder Oda an. Oder, fallst du nicht dazu kommen solltest, weil du von den beiden überrascht worden bist, tust du einfach so, als sei alles ganz normal und rufst später die Polizei an – sobald die beiden weg sind“, sagte Pavel. „Du darfst selbstverständlich auch mich anrufen. Ich gebe dir nachher meine Telefonnummer.“
Meine Mutter holte tief Luft.
„Halte noch ein wenig durch, Magda“, sagte Pavel. "Ihr habt es bald geschafft.“
München lag zirka sieben Autostunden von meinem Wohnort entfernt. Für Pavel bedeutete dies ein enormer Umweg, aber er ließ es sich nicht nehmen, mich nach München zu begleiten. Wir fuhren kurz vor Göttingen von der Autobahn ab und legten eine Pause ein. In der Nähe unseres Parkplatzes befand
sich eine Raststätte und Pavel schlug vor, einen Imbiss zu nehmen. Ich befürchtete, vor lauter Aufregung nichts essen zu können, ließ mich dann aber doch dazu überreden, von seinem Omelette zu kosten, dass mit Steinpilzen gefüllt war und hervorragend schmeckte. Ich bestellte mir auch eines, fühlte mich mit einem Mal wie ausgehungert. In dem Speiseraum befand sich eine alte Music-Box und irgendjemand hatte Sallys Lieblingslied gewählt, dass sie immer und immer wieder auf ihrem CD-Player abgespielt hatte: 'Halleluja' von Leonard Cohen - und mir schossen die Tränen aus den Augen. Pavel sah mich besorgt an. „Sallys Lieblingslied“, schluchzte ich. „Sie hat es fast täglich mehrmals gespielt.“
Pavel drückte tröstend meine Hand und machte mich auf ein junges Paar unweit unseres Tisches aufmerksam. „Bei diesem jungen Mann dort drüben könnte es sich ebenfalls um einen Loverboy handeln“, sagte er. „So smart, wie der sich benimmt.“
Ich blickte zu den jungen Leuten hinüber. Das Mädchen war – wie Sally - bildhübsch und sehr stark geschminkt. E r verbarg sein Gesicht hinter einer randlosen Brille mit großen, getönten Gläsern, war, wie seine Begleiterin, sehr gut aussehend, wies jedoch Gesichtszüge auf, die meiner Meinung nach Brutalität ausstrahlten. Ich befürchtete, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen sei, sobald ihm eine Kleinigkeit gegen den Strich ging. Die beiden machten keineswegs den Eindruck, als seien sie unsterblich ineinander verliebt.
„Wollen wir ihr helfen?“, flüsterte ich Pavel zu.
„Wir könnten es versuchen“, sagte er. „Mehr als schiefgehen, kann es nicht.“
Wir bezahlten unser Essen nebst Getränken und standen auf. Pavel ging drei Schritte voraus.
Im Vorübergehen stieß er – wie aus Versehen - das Weinglas des jungen Mannes um, das bis zur Hälfte gefüllt war. Die Flüssigkeit ergoss sich zu einem geringen Teil, es handelte sich dabei um höchstens fünf Spritzer, auf die Hose des Jungen, der aufsprang und seine Hände zu Fäusten ballte. Ich ging auf das junge Mädchen zu, das am Tisch sitzengeblieben war, neigte mich zu ihr hinunter und fragte: „Können wir Ihnen irgendwie helfen, werden Sie von dem Kerl zu irgendwas gezwungen?“
„Sie blickte schüchtern zu mir auf, und ich sah, dass sie ein blau geschlagenes Auge hatte. Es schimmerte in sämtlichen Regenbogenfarben.
„Ich bin mit ihm verheiratet“, flüsterte sie.
„Solange noch Zeit dazu ist, würde ich mich von ihm trennen“, sagte ich im gleichen leisen Tonfall. „Wenn erst Kinder da sind ...“
„Wir haben bereits zwei Kinder“, entgegnete sie. „Kati und John befinden sich momentan bei meiner Mutter. Wir sind in den Urlaub gefahren, um uns zu versöhnen, aber …“ Ihre Stimme klang verzweifelt.
„Was erzählst du der fremden Tussi über mich?“
Auch die S t i m m e des jungen Mannes klang unangenehm - und brutal. Mein Gefühl hatte mich auch diesmal nicht getäuscht.
„Nichts“, sagte die junge Frau und verzog ängstlich ihren Mund. „Sie hat mich gefragt, wo hier die Toiletten sind, und ich habe es ihr erklärt.“
Ich sah, dass Pavel dem Kerl einen Fünfzig-Euro-Schein zusteckte. Etwa für eine neue Hose? - Ich hielt das für reichlich übertrieben; die feinen Designer-Jeans des Mannes hatten am wenigsten abbekommen.
Ich holte eine meiner Visitenkarten aus der Jackentasche und drückte sie der jungen Frau unauffällig in die Hand.
„Falls Sie mal Hilfe brauchen“, raunte ich im Fortgehen. Pavel kam hinter mir her.
"Was für ein unangenehmer Typ", sagte er, als wir außer Reichweite waren. "Der hätte mich glatt bewusstlos geschlagen, wenn ich ihm nicht das Geld angeboten hätte. Was hat die Frau gesagt?“
„...dass sie mit ihm verheiratet sei“, sagte ich.
„Die Ärmste, auch das noch“, stöhnte Pavel.
Wir parkten in der Innenstadt. Pavel war schon öfter in München gewesen, mir hingegen war die Metropole gänzlich fremd. Wir hatte etwa 500 Fahndungszettel gefertigt, die ruckzuck weg waren. Die letzten drei Zettel hefteten wir an die Pinwand eines Supermarkts in Schwabing.
„Für mich wird es jetzt leider allerhöchste Zeit, Cordula. Ich muss morgen in aller Herrgottsfrühe zum Großmarkt - Waren für unsere Restaurantküche besorgen.
„Versprich mir, dass du jetzt auch nach Hause fährst; ich mache mir anderenfalls während der Fahrt Sorgen um dich.“
„Ich fahre gleich mit der Bahn wieder heim, Pavel“, versicherte ich „Fahre bitte vorsichtig und gib mir bitte umgehend Nachricht auf meinem Handy, sobald du in deiner Wohnung angekommen bist, dann wird Mutter nicht geweckt.“
Wir umarmten und küssten uns ein letztes Mal, Pavel setzte sich in seinen kleinen Toyota und fuhr los. Ich winkte, bis das Fahrzeug nur mehr ein winziger Punkt am Horizont war.
Ich hatte von Anfang an nicht vorgehabt, München so schnell wieder zu verlassen. Pavel hätte nicht gutgeheißen, was ich mir vorgenommen hatte: Ich wollte die Rotlichtszene rund um den Münchener Hauptbahnhof nach Sally absuchen und begab mich auf die Suche nach einem geeigneten Hotel.
Fortsetzung (5. Teil) folgt am 17. Dezember 2016
Kommentare
Auch dieser Teil hat sich bewährt:
Plastisch, spannend - lesenswert!
LG Axel
Man dankt dem Chef von KRAUSE, Bertha, der viel liest und sich Gedanken macht,
und wünscht ihm eine gute Nacht.
LG Annelie