Sophie wohnte etwas abgelegen und sass oft vor dem Haus auf ihrem Bänklein. Dann schaute sie die hohen Gipfel an, ass ein Vanilletörtchen mit Kirsche und war zufrieden. Manchmal bestellte sie beim Konditor im Tal unten einen besonderen Leckerbissen: Den Marzipanmann, der in einem Eiswürfel tiefgefroren war. Das sprach sich mit der Zeit im Dorf herum und man gab der Frau, die sich selten im Dorf blicken liess, den Übernamen "Die kalte Sophie". Immer wenn der Konditor mit seinem Auto bei ihr abgefahren war, setzte sie sich vors Haus auf das Bänklein, legte den Marzipanmann zwischen ihre Beine und wartete, bis er geschmolzen war. Dann lehnte sie sich zurück und dachte: "Hallelujah, schon wieder einer." Dann ging sie ins Haus, duschte sich und ging wieder ihrer Arbeit im Stall nach. Wenn der Konditor die Marzipanmänner zu ihr brachte, sah er immer öfters Spuren seiner Ware vor dem Haus. Einmal kehrte der Konditor auf halbem Weg unverhofft zu Sophies Haus zurück, nachdem er vergessen hatte, den Deckel der Kühlbox mitzunehmen.
Seither fährt die kalte Sophie öfters ins Tal hinunter. Sie denkt auch schon darüber nach, den Hof zu verkaufen und zum Konditor zu ziehen, der wie der Marzipanmann aussieht.
© René Oberholzer, 2017