Mein Gott, war das damals ein heißer Spätsommer … und so verdammt aufregend; ich ahnte zwar, dass irgendetwas geschehen würde, kein Wunderrrrr, wie die Leander es in den letzten Kriegsjahren noch heraufbeschwören wollte (die Schlacht verloren zu unser aller Glück die verfluchten Nazis), aber es lag etwas in der flauen Luft, das nicht mal die herzhaft frischen Nordseebrisen vertreiben konnten.
Wir stehen vor der Zitadelle in Spandau (Berlin), das Kind zieht einen Flunsch und verlangt das dritte Eis in Folge, womöglich will es uns weismachen, es schaffe anderenfalls die Treppen nicht, die in den Juliusturm führen: immerhin 153 Stufen …
Wir lassen uns „erpressen" – auch die Bundesregierung unter Helmut Schmidt wird erpresst: Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer ist von RAF-Terroristen entführt worden … ausgerechnet während unseres Urlaubs auf der „Insel“. Die RAF hat das Feuer eröffnet; es sollen binnen eineinhalb Minuten mindestens 119 Schüsse abgegeben worden sein.
Wenige Tage zuvor (wir schreiben das Jahr 1977, Ende August/Anfang September):
Ich brauche dringend einen neuen Reisepass. Das geht blitzschnell in Friesland. Die Nordseewellen treiben alles voran, auch die Gemüter und die Arbeitslust.
Eine Wohnung haben wir bereits auf der „Insel“. Das jüngere Ehepaar, das sie uns vermietet hat, ist seit geraumer Zeit auf Reisen; den Schlüssel soll uns ein zuverlässiger Nachbar übergeben. Noch ahnen wir nicht, was uns dort erwartet!
Die Koffer sind gepackt. Wir sind unterwegs … erst Autobahn, dann Transitstrecke durch die Deutsche Demokratische Republik: das eingemauerte Volk. Seit wir Margarethenkoog hinter uns gelassen haben, lässt der Stress nach, und ich bin in der Lage, dieses Volk schon jetzt heiß und innig zu lieben.
Wir rasten im Grünen. Das Kind muss sich die Beine vertreten und Pipi machen; ich werfe Reisetabletten nach, damit unser neuer Kleinwagen sauber bleibt; wir halten nichts von großen Angeberschlitten.
Und dann, nach langer Fahrt, tritt endlich ein, was sich mir in die Seele brennen wird, ein Bild, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde: Die Gestalt eines russischen Offiziers, der plötzlich am Waldrand neben der schmalen Fahrbahn steht, wie aus dem Boden gestampft, und mit schmerzerfüllten Augen in unser Auto blickt; mein Herz klopft mit einem Mal schneller, und ich muss an das Lied denken, das mein Vater oft so traurigschön gesungen hat, als ich fast noch ein Kind war:
„Allein!, wieder allein!
Einsam wie immer. Vorüber rauscht die Jugendzeit
in langer, banger Einsamkeit.
Mein Herz ist schwer und trüb mein Sinn,
ich sitz' im gold'nen Käfig drin. –
Es steht ein Soldat am Wolgastrand,
hält Wache für sein Vaterland.
In dunkler Nacht allein und fern,
es leuchtet ihm kein Mond, kein Stern.
Regungslos die Steppe schweigt,
eine Träne ihm ins Auge steigt:
Und er fühlt, wie 's im Herzen frißt
und nagt ... Wenn ein Mensch verlassen ist,
und er klagt, und er fragt: Hast du dort oben
vergessen auch mich? Es sehnt doch mein Herz
auch nach Liebe sich. Du hast im Himmel
viel Engel bei dir! Schick doch einen davon
auch zu mir.“
Ein Text, der wahrlich zu Herzen geht. Das Lied stammt aus der Operette „Der Zarewitsch" von Bela Jenbach. Die Musik hat Franz Léhar komponiert. Auch Ivan Rebroff hat das Lied gesungen; die Melodie ist wunderschön und schwermütig wie die kleinste Matruschka unter all den Babuschkapüppchen. Auch ich habe dieses Lied oft gesungen, aber meine Stimme ist viel zu hell für die russische Schwermut.
Schon sind wir vorüber, während sein Blick uns folgt … Das Bild hatte grad noch Zeit, sich in mein Herz zu brennen. Dort ist es in Sicherheit.
Eine riesige Lücke, die eine hohe Hecke unterbricht, gibt jäh den Blick auf weite Felder frei – und wie aus der modernen Zeit in die alte zurückgefallen, die unsere „neue“ Welt ablehnt und nicht mehr beherbergen will, tauchen drei Frauen auf. Sie tragen im Nacken geknotete Kopftücher ... und Arbeitsgeräte zur Bestellung des Bodens. Fröhliche, sympathische Menschen! Gute, kluge Gesichter! Menschen, denen man vertrauen darf; ich kann es nicht anders sagen … und mich packt plötzlich eine unbegreifliche Sehnsucht … unsere Blicke treffen sich für nur einen kurzen Moment … und mich durchströmt ein Glücksgefühl, wie ich es, wenn überhaupt, nur selten empfinde. Mich durchzuckt der Gedanke, jemand habe mir den russischen Offizier und die drei Frauen über den Weg geschickt … Aber weshalb? – Darf man eigentlich in den Osten flüchten …? Soll ich die Frauen in den Westen schmuggeln? Wären sie dort auch so fröhlich …? Ich grübele vor mich hin ... bis der Grenzübergang in Sicht kommt und mich ablenkt.
2. Teil: voraussichtlich Mittwoch; Untertitel: Ernüchterung ... und das Kind will Blumen für Loki Schmidt pflücken, die in Tegel auf dem Flughafen landet ... Das schöne Lied: ES STEHT EIN SOLDAT AM WOLGASTRAND (Wolgalied) können Sie im Internet hören, liebe Leser ...