Herbst 1992 – kommt euch das irgendwie bekannt vor – etwa ungefähr wie 2016?

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Auf der Arbeit verberge
ich meine Meinung zum Problem
der Asylsuchenden,
um das Arbeitsklima
nicht zu verschlechtern.

Ich kann aber nicht verhindern,
dass mir das Brot im Halse steckenbleibt,
als jemand sagt,
es gäbe noch viel zu viel
Sinti und Roma;
es hätten 'damals' noch viel mehr
umgebracht werden sollen …

Morgen kommt jemand von der Post,
um meine defekte Telefonschnur
auszutauschen.
Vorher nehme ich, sicherheitshalber,
das Pamphlet aus der 'Zeit'
von der Pinwand über dem Telefon,
das an ALLE GERICHTET IST,
DIE BEIFALL GEKLATSCHT HÄTTEN,
WENN IN DEUTSCHLAND WIEDER
MENSCHEN VERBRANNT WORDEN
WÄREN, um nicht zu provozieren.

Abends erschrecke ich
über die hasserfüllten Gesichter
der Neo-Nazis im Fernsehen.

Am nächsten Morgen
sagt jemand im Radio,
'das seien keine Neo-Nazis,
sondern UNSERE KINDER
gewesen'.

Und sie wissen genau, was sie tun.
Wie lange müssen wir das Echo noch
ertragen? -

veröffentlicht in "Texte und Bilder gegen Rassismus, Gleichgültigkeit, Kinderfeindlichkeit, Ignoranz, Rücksichtslosígkeit u.v.a.m.", GAUKE, Lesezeichen-Anthologie 5:
Zu dem Anschlag in Berlin - die Worte, die Ex-Kanzler Helmut Schmidt einmal sagte (könnten auch ebenso gut von Nobelpreisträger und Ex-Kanzler Willy Brandt gewesen sein):
"Schmidts Worte klingen wichtig und richtig wie vor 40 Jahren (Entführung von Hanns Martin Schleyer):
'Sie (die Terroristen) mögen in diesem Augenblick ein triumphierendes Machtgefühl empfinden. Aber sie sollen sich nicht täuschen. Der Terrorismus hat auf Dauer keine Chance. Denn gegen den Terrorismus steht nicht nur der Wille der staatlichen Organe. Gegen den Terrorismus steht der Wille des ganzen Volkes. Dafür müssen wir alle trotz unseres Zorns einen kühlen Kopf behalten.'"

aus: Hamburger Morgenpost vom 21.12.2016

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