Kleines Traktat über die menschliche Dummheit

Bild von W.Haller
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Ein nicht immer ganz ernst gemeinter Beitrag zum Modethema „Denken wird überschätzt“.

Was Dummheit ist? Die Antwort fällt nicht leicht, denn wer über D. spricht, suggeriert sich und anderen, über ihr zu stehen, und gerade das gilt u.a. als Zeichen von D.
Die meisten Lexika schwiegen sich noch bis vor wenigen Jahren über die D. aus, der Begriff kam in ihnen einfach nicht vor, obwohl er ja stets in aller Munde ist. Inzwischen hat sich das geändert, und so finden wir z.B. bei WIKIPEDIA, dass man unter D. ein bewusstes oder unbewusstes Defizit an Wahrnehmung versteht, wodurch es an der Fähigkeit mangelt, aus Wahrnehmungen richtige Schlüsse zu ziehen bzw. daraus zu lernen. Dazu Kant: Mangel an Urteilskraft ist, was man Dummheit nennt…und diesem Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.
Heute weiß man, dass es auch emotionale Widerstände gegen Einsichten gibt oder eine starke Abhängigkeit von Meinungsbildnern, Indoktrination oder Manipulation durch andere (wie z.B. bei Ideologien und Religionen).
D. liegt im Unterschied zu geistiger Behinderung oder blankem Unsinn angeblich „noch im Normalbereich kognitiver Fähigkeiten“. Sie ist außerdem wie vieles andere relativ, individuell sowie historisch und situationsbedingt, und: sie ist erlernbar.
Ein relativ sicheres Zeichen für D. ist besonders in unseren Tagen das ständige Bedürfnis nach Spaß bei wachsender Unlust an kritischer Ernsthaftigkeit. Will man der D. entgehen, muss man also alles dafür tun, seinen kritischen Verstand auszubilden und urteilsfähig zu werden, womit man zweifellos für den Mainstream zum Spaßverderber wird.
Aber wie dem auch sei oder was Kant, Platon, Erasmus u.v.a. dazu gesagt haben, der Verfasser hat zu diesem Thema u.a. folgende Ansichten:
D. ist unser Gefangenbleiben in dem, was wir in frühen Jahren gelernt haben, dies für das Wahre und Rechte zu halten und gegen alles und jeden verbissen zu verteidigen, als ginge mit ihm unser einziger innerer Halt verloren. Das hat unabhängig vom Lebensalter mit einer „Verkalkung“ unserer Ansichten zu tun, oder, wie Platon präzise sagt: Wir sehen nur, was wir wissen.
Bei einem Bekannten stand in dessen schlesischem Elternhaus gutes Essen ganz oben auf der Werteskala, und an Sonn- und Feiertagen gab es stets "Dreierlei Fleisch und Kaisergemüse" als Ausdruck vollendeter Kultur und „gehobener Lebensweise“, und dieses Ritual wurde in seiner eigenen Familie beibehalten. Bei seinem einzigen Auslandsbesuch bestellte er das Gericht in einem Lokal auf einer sizilianischen Steilküste mit weitem Meerblick, worauf der Kellner ihn mit großen Augen ansah und bedauernd mit den Schultern zuckte. Im selben Moment waren Italien und alle Länder außer seinem Heimatland für ihn gestorben - alles Barbaren! Erschwerend kam für ihn hinzu, dass sein wahres Heimatland schon viele Jahrzehnte nicht mehr existierte.
D. hat mit Bequemlichkeit des Kopfes zu tun, weil es am einfachsten ist, das erste beste, was wir aufnehmen, als Denkgerüst und inneren Halt anzusehen, alles andere macht uns unsicher und strengt an.
Wir sind zunächst anscheinend wie ein leeres Glas, und was als erstes hinein gelangt und es auffüllt, bleibt in ihm enthalten, und was nachgegossen wird, läuft über bzw. weg.
Man hält andere leicht für dumm, sich selbst jedoch nicht. Da das jeder von uns macht, kann das natürlich nicht stimmen, aber vor dieser Erkenntnis schützt uns wiederum unsere Dummheit.
Nur wir Menschen sind dumm, weil wir uns diesen Luxus leisten können. Tiere sind es nicht, und wären sie es, würden sie auf kürzestem Weg von der gnadenlosen Natur ausgerottet. Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Mensch und Tier.
Wir postulieren:
Dummheit ist ein hohes Gut und ein Menschenrecht, und zwar ein
singuläres,
elementares und existenzielles,
universelles,
friedenstiftendes und exemplarisches,
unerschöpfliches und unbeschränktes,
implizites,
exklusives, individuelles und originäres.

Dieses Menschenrecht gilt, existiert und wirkt, obwohl niemals irgendwo festgeschrieben, seit den ersten Menschentagen, wird von jedermann widerspruchslos anerkannt und wahrgenommen, und so wird es bleiben. Ja, wir können feststellen: Ohne Dummheit keine Menschheit!
Einstein stellte fest, dass es seiner Überzeugung nach zwei Dinge mit unendlichem Vorrat gibt: das Weltall und die menschliche Dummheit. Was das Weltall betrifft, war er sich jedoch nicht völlig sicher.
Damit die o.a. Attribute dieses ersten und besonderen Menschenrechtes nicht unverständlich, sarkastisch oder als leere Behauptungen erscheinen, wollen wir uns ihnen nachfolgend in der Reihenfolge der Aufzählung widmen.

1. Warum ist Dummheit ein singuläres Menschenrecht?
Weil es einzig dasteht, denn es wird weder unterlaufen noch verfälscht, wie z.B. die Menschenrechte auf Gleichheit vor dem Gesetz, auf Freiheit der Person, auf Arbeit, Bildung, Gesundheit usf., sondern stets eingehalten.

2. Warum elementar und existenziell?
Weil es grundlegend, wesentlich sowie lebens- und überlebens-wichtig ist.
Wenn wir nicht ausnahmslos dumm wären, wäre die Menschheit vermutlich seit Jahrhunderttausenden an Perfektion, mangelnden Triebkräften und tödlicher Langeweile ausgestorben, aber mit ihr
stehen wir sozusagen immer am Anfang, haben Hoffnung, machen weiter, können stets von Neuem beginnen, begreifen die Zusammenhänge nicht, haben stets neue Illusionen, machen stets neue und ggf. tödliche Fehler usf. Es wird nie langweilig, alles fließt, es geht immer weiter, höher, schneller, dümmer…
D. ist personengebunden und nicht übertragbar, kann jedoch durch Vererbung u/o Beeinflussung (Erziehung, Ausbildung, Denkmuster, Vorurteile usf.) wirkungsvoll mit anderen geteilt werden, die es dann individuell leben und weiterentwickeln. So ist immer dafür gesorgt, dass D. sich verändert, an unterschiedliche Formen anpasst und der Menschheit als unverzichtbare Eigenschaft erhalten bleibt.

3. Warum universell?
Weil ausnahmslos jeder davon betroffen ist, immer und überall, sowohl von der Dummheit als auch von dem Recht auf sie.

4. Warum friedenstiftend und exemplarisch?
Weil jeder mit seinem persönlichen Besitz an Dummheit zufrieden ist und keinen zusätzlichen Anspruch auf die Dummheit einer anderen Person erhebt. Es gibt weder um dieses Recht noch um seine Einhaltung Streit, und darum ist in diesem Sinn friedensstiftend und beispielhaft für alle anderen Menschenrechte.

5. Warum unerschöpflich und unbeschränkt?
Weil immer und überall mehr D. vorhanden ist, als gebraucht wird. Damit ist D. das einzige Gut dieser Art.

6. Warum implizit?
Weil die Dummheit des einen an äußeren Anzeichen vom anderen nicht erkannt wird, D. ist sozusagen versteckt. Es ist eine Mär, dass eine niedrige Stirn oder eng stehende Augen Zeichen für besondere Dummheit sind.
Hinzu kommt, dass wir unsere eigene D. auch nicht erkennen.

7. Warum exklusiv, individuell und originär?
Weil jeder eine bzw. besser: seine ganz spezifische Dummheit besitzt, die wie seine Iris- oder Papillenmuster nur ihm allein eigen ist. Jeder besitzt seine ganz spezielle Mischung aus Vorurteilen, Ängsten, Überheblichkeit, Hass, Unwissen, Brutalität, Egoismus, Falschheit, Gier, Arroganz, Begehrlichkeiten, Größenwahn, Min-derwertigkeitsgefühlen, Mitmenschlichkeit u.v.a.
Es gibt keine zwei identischen Dummheiten, sondern unsere persönliche D. ist ein Unikat, das es in dieser Form niemals vor, neben oder nach uns gibt.

2016

Interne Verweise