Feddersen

Bild für das Profil von Heide Nöchel (noé)
von Heide Nöchel (noé)

Feddersen war keiner, der die Bettdecke entschlossen beiseite schleuderte, wenn morgens der Wecker klingelte. Er brauchte noch nicht einmal dieses Weckerklingeln, denn er wachte kurz vorher von selbst auf, unabhängig vom Lichteinfall, sommers wie winters. Da niemand da war, den es hätte beeindrucken können, schenkte er sich sogar eine Äußerung wie Gähnen. Er setzte sich einfach bedächtig auf, schlüpfte mit seinen beiden Füßen gleichzeitig in seine Pantoffeln vor dem Bett, erhob sich und begab sich ins Bad.
Ohne spürbare Emotion lief nun die tägliche Routine ab: Er benutzte das WC, schaute beim Zähneputzen nicht in den Spiegel, entledigte sich des Schlafanzuges, absolvierte den Duschritus, auf dem Weg zurück vor das Waschbecken rubbelte er sich seine paar grauen Strähnen trocken, um sie dann ohne hinzusehen glattzukämmen, obwohl auch sie schon genau wussten, wie sie zu liegen hatten.
In seinem Schrank hingen mehrere Ausgaben desselben dunkelgrauen Anzugmodells, in den Fächern lagen akkurat zusammengefaltet zehn Exemplare ein und desselben leicht angegilbten weißen Hemdes, die Sockenschublade quoll zwar fast über, aber alle Socken waren einfarbig mausgrau. So blieb ihm Zeitverlust erspart, denn er musste nicht wählen und hätte selbst bei Stromausfall immer akkurat gekleidet das Haus verlassen können. Gut, er besaß genau drei Krawatten, aber selbst da gab es kein Vertun: die schwarze war für Trauerfälle gedacht und lag hinten links im Schub, die beiden anderen waren identisch schiefergrau mit schmalen perlgrauen Schrägstreifen von links oben nach rechts unten und hätten fast ein wenig extravagant gewirkt, wenn sie nicht zu seinem täglichen Erscheinungsbild gehört hätten. Auch die ehemals wohl schwarzen Schuhe hatten durch ihre lange Pflegezeit inzwischen selber schon fast einen grauen Schimmer angenommen. Er wirkte insgesamt so farblos-grau, dass sogar sein Arzt sich jedes Mal erschreckte, weil Feddersen sich entgegen aller Annahme bei Berührungen warm anfühlte.
Apropos Erscheinungsbild: Es war so normal, ihn täglich zur selben Zeit am selben Platz in immer derselben Altherrenkleidung hinter seinem Schreibtisch sitzen zu sehen, dass man ihn einfach übersah. Er verschmolz derart mit den Akten, dass er schon zum Inventar gerechnet wurde. Wahrscheinlich wäre allein sein Fehlen aufgefallen, in dem Sinne, dass seine Kollegen irritiert die Stirn gerunzelt und sich eine halbe Sekunde lang gefragt hätten, was es wohl war, das am Gesamteindruck nicht stimmte, bevor sie wieder dazu übergegangen wären, untereinander farbenprächtig vom letzten oder vom kommenden Wochenende zu schwärmen.
Feddersen war nicht unpraktisch, aber jede Veränderung war ihm ein Graus. Sie stürzte ihn in ein emotionales Chaos, das er – wenn möglich – zu umschiffen suchte. Die für ihn folgenschwerste Veränderung war der Tod seiner Mutter vor ein paar Jahren gewesen. Er wohnte immer noch in der ehemals elterlichen Wohnung, aber es hatte gedauert, ein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Jeder Einkauf, den nun er selber tätigen musste, brachte ihm die Außenwelt näher, als ihm lieb sein konnte. Routine war sein Lebenselixier.
Wenn seine Kollegen ihn auch nicht bewusst wahrnahmen, er hörte ihren Gesprächen zu. Gezwungenermaßen und kommentarlos zwar, meistens voller Unverständnis, aber etwas hatte ihn doch aufhorchen lassen. Immer wieder fiel ein Name: Alexa. Alle seine Kollegen schienen dieselbe geheimnisvolle Frau zu kennen, und sie schien bereit, alle Wünsche bedingungslos zu erfüllen, man musste nur ihren Namen sagen. Das klang fast wie der Flaschengeist Jeannie aus der Fernsehserie, die er sich mit seiner Mutter zusammen immer angesehen hatte.
Neugierig geworden, hatte er nach Monaten der Überlegungen und Internetrecherche Alexa gefunden und sie sich ins Haus bestellt. Nach einigen weiteren Monaten hatte er sich dazu durchgerungen, sie zu installieren. Tatsächlich ermöglichte sie ihm, Außenkontakte weitestgehend zu vermeiden, denn alles, was er benötigte, brauchte er nur Alexa zu erzählen, die dafür sorgte, dass es ihm geliefert wurde. Das bedeutete für ihn eine große Erleichterung. Im Rahmen seiner Möglichkeiten bereitete ihm auch ihre sanfte Stimme ein gewisses Maß an Wohlbefinden, zumal sie nie widersprach und ihm so keine Diskussionen aufzwang.
Am 3. Dezember jedoch war er irritiert, als ihn beim Betreten der Wohnung leise Musik empfing. Er verharrte mit dem Schlüssel in der Hand und schaute vorsichtshalber auf das Namensschild, aber dort stand gut lesbar „Feddersen“.
Am 5. Dezember begrüßte ihn auf dem Flurtischchen eine einzelne rote Rose in der schlanken Vase, die immer schon neben der Schale für Kleingeld und Schlüssel stand. Der zarte Duft ließ ihn an seine Mutter denken, denn zu ihrer Zeit hatte es noch Blumen in der Wohnung gegeben.
Am 8. Dezember durchzog ein ihm vertrauter Duft den Flur, und als er schnuppernd die Küche betrat, entdeckte er dort tatsächlich ein Glas mit warmer Milch, gesüßt mit Honig und mit einem kleinen Schuss Rum versehen, um ihm die Winterkälte zu vertreiben.
Zuerst war es Unsicherheit, aber jeden Tag etwas mehr ergriff ihn eine gewisse Anspannung, je näher er seinem Wohnhaus kam. Was würde ihn heute erwarten? Diese seltsame Empfindung war ihm bisher unbekannt gewesen, er wusste nicht, wie er sie einzuordnen hätte, noch weniger, dass man ein solches Gefühl Vorfreude nannte.
Ab dem 14. Dezember lagen genau 3 Anisplätzchen auf einem Tellerchen neben dem Glas Milch.
Und als am 20. Dezember beim Betreten der Wohnung ein würziger Tannenduft seine Nase kitzelte, wunderte ihn schon gar nichts mehr. Neugierig öffnete er die Wohnzimmertür und dort stand ein kleines Bäumchen, es war perfekt geschmückt, dezent in Blau und Silber, genau wie seine Mutter ihm jedes Jahr den Weihnachtsbaum präsentiert hatte, nur die Kerzen leuchteten noch nicht.
Das änderte sich am 24. Dezember.
Als er nachmittags nach Hause kam, durchzog Bratenduft die Wohnung, es roch nach Rotkohl, Zimt, Pastinaken und Maronen, der Tisch war liebevoll gedeckt, an der einen Ecke durch ein Adventsgesteck und eine flackernde rote Kerze ergänzt, zarte weihnachtliche Klänge versetzten ihn in eine melancholische Stimmung. Aufseufzend nahm er Platz, hob erwartungsvoll das funkelnde Kristallglas und sagte gerührt: „Alexa, frohe Weihnachten!“ Wie erwartet ertönte ihre sanfte Stimme: „Frohe Weihnachten!“
Wohlig gesättigt öffnete er später nach und nach die Pakete, die er auf dem Tischchen unter dem Baum vorfand. In ihnen entdeckte er schneeweiße Hemden, ein leicht bleu getöntes war auch dabei, er hatte jetzt drei neue Krawatten in Anthrazit und in zurückhaltendem Blau im angesagten Business-Stil, einen schwarzen Anzug in modernem Schnitt und neue, ebenfalls schwarze, glänzende Schuhe, die passgenau saßen.
Umgeben von seinen Schätzen kuschelte er sich gemütlich in seinem neuen blauen Flauschbademantel in die Sofa-Ecke und lauschte in sich hinein, spürte diesem unbekannten Gefühl nach, das ihn erfüllte und das ihn zufrieden machte. Fast unhörbar, selbst für ihn, summte er mit, als das Lied „Jingle Bells“ im Lifestream lief.

© noé/2017

Prosa in Kategorie: