Im Vorübergehen fiel einem junger Mann eine Frau auf. Sie war alt und sass in einem Rollstuhl.
Eine Decke, wärmte ihren Schoss. Die Haare weiss und zu einem Dutt zusammengebunden
und die permanent gebückte Haltung machte ihn traurig. Sie sass da so verloren und hatte
eine Rose in der Hand. Vielleicht ein Geschenk an sie, oder sie mochte einfach Blumen,
dachte er. Aber schlimm fand er, dass das Fussvolk, wie selbstverständlich an ihr vorüberzog,
als würde sie nicht existieren. Das erschreckte ihn.
Der junge Mann, noch neu in der Gegend, machte sich Gedanken. Eine alte Frau, in einem Rollstuhl,
in einer Bahnhofshalle? Niemand kümmerte sich um sie? Darf das sein? Sollte ihr nicht jemand helfen?
Es war schon spät abends und es waren nicht mehr so viele Vorüberziehende unterwegs.
Der junge Mann, zu schüchtern, um die Frau anzusprechen, fragte einen Bahnhofsangestellten:
entschuldigen sie bitte, wissen sie, was mit der alten Frau ist? Sie sieht so verloren aus.
Der Angestellte antwortete ihm:
Die Frau da in dem Rollstuhl, ist unsere gute Seele. Tag und Nacht kommt sie hierher und kümmert sich
mit ihrem Dasein, um die Vorüberziehenden. Sie tut nichts, doch sie tut alles, weil sie da ist.
Man munkelt, sie komme her, weil sie ihrem Mann nahe sein will. Er wurde genau dort,
Opfer eines Verbrechens. Das war vor 50 Jahren.
Er bedankte sich artig und ging, mit wirrem Kopf und einer Träne im Gesicht ein paar Schritte.
Dann sah er nochmal zu der Frau und bemerkte, dass sie genau in dem Moment zu ihm aufblickte.
Ihre Trauer ging ihm durch Mark und Bein, doch da war diese Nähe zu ihr, die ihn irritierte.
Er kannte die Frau doch gar nicht. Hatte nichts mit ihr zu tun. Oder vielleicht doch?
Kurz darauf, lief der junge Mann, mit zittrigem Verstand zu seinem Zug, der ihn ins Nirgendwo
bringen sollte.
Im Vorübergehen © by Mick Haesty L’Artyrix CH/D 13.06.2020
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